Jung genug zu sterben
nichts liegen, nur im Gleisschotter. Der Rest war nass. Vorn am Signal lagerte ein Haufen zugebundener, schwarzer Plastiksäcke. Melina dachte an Katastrophenfilme. Wahrscheinlich war es nur der Müll, der mit ihr auf den Zug wartete. Sie hatte Christine versprochen, mit der Gruppe zwischen den Seen zu wandern.
Christine ist keine, die einen Ausflug wegen ein paar Schneeflocken absagt. Jenissej ist mit Lenas Film beschäftigt. Ich hoffe immer noch, dass ich irgendetwas über Lenahöre, auch wenn Christine nicht die Leiterin der letzten Reisegruppe war.
Tatsächlich stand das Grüppchen ein kleines Stück oberhalb des Bahnhofs Ospizio Bernina und wartete auf Melina.
Grüppchen
war nicht die treffende Beschreibung. Eher waren bunte Anoraks mit Jugendlichen darin so weit im Schnee verstreut wie möglich. Christine winkte.
»Frohe Weihnachten«, rief Christine ihr zu. Und in die Runde: »Auf, Schneemänner und Schneefrauen! Losrollen!«
Die Gruppe wurde auch nach dem ersten Kilometer noch nicht zur Truppe. Manche schlenderten und holten das Gros nur wie durch ein Wunder ein.
Alle hellgrauen Steine waren entweder regenschwarz oder mit weißen Kappen versehen. In der polaren Landschaft steckten Stromleitungsmasten. Man konnte rasch die Größenorientierung verlieren, weil es keine Häuser oder Straßen zu sehen gab. Nur ein Wasser schlängelte sich schwarz und an manchen Stellen schäumend über die Oberfläche des Eisplaneten.
Melina sah eine eingestürzte Trockenmauer. Durch die Bruchstelle ergoss sich ein neuer Bach.
»Wie weit wollen wir heute kommen?«, fragte sie und wischte sich den Schnee aus den Haaren. Eine Mütze hatte sie nicht mitgenommen.
»Wieso?«, fragte Christine. »Willst du schlappmachen? Drei Stunden sollten wir schaffen. Minimum. Immerhin wollen wir uns vorbereiten auf die große Tour.«
»Und das heißt?«
»Wir schauen, welche von den Kids sich halten. Wenn sie bereit sind, das Jahr über zu trainieren, wollen wir mit ihnen im Frühjahr die Alpen überqueren.«
Melina lachte. »Die Alpen … aha. – Meinst du das so?«
»Klar. Durch die Berge bummeln, wie wir das gerade machen, kann jeder. Was glaubst du, wie sehr es das Selbstwertgefühl eines jungen Menschen steigert, wenn er sagen kann: He, meine Schulnoten sind im Keller, meine Alten machen Drama, aber ich –
ich habe die Alpen überquert
. Zu Fuß!«
»Ja, kann ich mir vorstellen. Bisschen gefährlich, oder?«
»No risk – no fun. Außerdem ist es nicht gefährlicher, als in Berlin auf einer Verkehrsinsel herumzublödeln.«
»Na ja … Muss man nicht bergsteigen können? Ich meine, wenn man keine Elefanten dabeihat?«
Christine grinste. »Es hilft, wenn man weiß, wie man eine Seilschaft bildet. Ein Zuckerschlecken ist es nicht, und ohne Blessuren geht es auch nicht. Aber das ist der Punkt. Welcher körperlichen Gefahr können sie sich zu Hause stellen? Allenfalls renken sie sich beim Gähnen den Kiefer aus. Oder ihr Kopf fällt beim Einschlafen auf die Playstation. Ich meine, einige von ihnen machen ja Sport in Berlin, aber das ist nur indirekt Leistung. Wenn sie die Alpen überqueren, stehen sie buchstäblich auf eigenen Füßen. Sie müssen sich helfen, sie müssen den inneren Schweinehund überwinden. Und nachher können sie auf die Landkarte zeigen und sagen, dass sie diese wirklich existierende Hindernisregion überwunden haben. Nicht bloß einen Punktelevel bei so einem Piepsespiel.«
»Nehmt ihr zu der großen Tour Jugendliche aus anderen Gruppen mit?«
»Ja, ich denke, es werden vier bis sechs kleine Touren sein, aus denen wir die neue Gruppe zusammenstellen. Wer bei denen besonders motiviert ist und es wirklich will und sich auch nicht dösig anstellt, der kommt mit.«
»Ist Lena auch dabei?«
»Jetzt lass doch … « Christine fuhr herum. Bei der Bewegungging allerdings auch Christines Arm, in dem sie den Wanderstecken führte, zu der Seite, an der Melina ging. Das Holz traf Melina am Unterarm, und sie ging für eine Sekunde in die Knie. »Ah!«
»Entschuldigung. Was passiert?«
Melina stand wieder und ging weiter. Sie rieb sich den Arm. »Schon okay. Mehr der Schreck.«
»Gut. Was soll das mit Lena? Ich kann den Namen nicht mehr hören.«
»Ich dachte, sie wäre nicht in deiner Gruppe gewesen und du kennst sie nicht näher, Christine. Ich will dich nicht ärgern.«
»Lena hat viel Trouble gebracht, es gab Nachfragen, die Eltern der anderen sind verunsichert und so weiter. Die … – Tina!
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