Jung genug zu sterben
hauchdünne Eis. Warum
habe ich mir die Gedanken gemacht, es ist doch sonnenklar, dass ich nur ruhig hinaufkommen muss, nur die Angst
vermeiden soll. Und dann kann ich diese millimeterdicke Eisschicht
mit dem Kopf durchstoßen, ohne Mühe, so als ob ich
aus einer Wanne mit warmer Milch auftauche, auf deren
Oberfläche sich fette Haut gebildet hat.
Das Ganze hat als Alptraum begonnen, es sollte mir Angst
einjagen. Natürlich ist es immer noch ein Traum, so etwas
gibt es ja nicht. Man kann unter einem Schiff oder einer Eisscholle
hindurchtauchen. Aber es ist gefährlich und dumm.
Welchen Sinn macht der Traum? Er zeigt mir, wie ich Angst
bekommen soll und wie ich mich so diszipliniere, dass ich es
überwinde. So, jetzt durchstoße ich das Eis.
Wirklich, es ist hauchdünn. Es riecht nach See. Die Sonne
spiegelt sich in dem türkisblauen Wasser wie in einem Sommerschwimmbecken. Es ist so klar, dass ich kilometerweit bis
auf den Grund sehen kann. Da unten im hellen Sand gibt es
dunkle Felsen. Hier und da einen Schwarm.
Nur auf die Unterwasserboote muss ich achten, die gibt es
in jeder Größe, und sie tauchen aus dem Nichts auf. Lustig,
die Feststellung: Sie
tauchen
aus dem Nichts auf.
Wenn ich mit dem Kopf unter Wasser gehe, so dass die Augen
unter der Wasserlinie sind, kann ich nicht nur nach unten
sehen, sondern in alle Richtungen des Meeres. Der Meere.
Ich sehe alles, was sich abspielt, das Wasser ist klar bis in die
letzte Ecke der Kontinente. Klarer könnte es nicht sein. Und
auch das Felsgestein wird heller. Weiß. Transparent. Durchsichtig.
Ich weiß ja, es ist ein Traum. Aber er stimmt.
Er ist wahr.
Ich trage diesen weinroten Bademantel. Er ist weich und
bequem. Ich sitze in dem weißen Leder und kann überall hinschauen. Alles ist eindeutig. Logisch. Ich habe Atem für das
ganze Leben in meinem weinroten Bademantel. Der genau
genommen ein weinroter Smoking ist.
Ein lustiger Traum. Lustig und wahr.
54
Hans-Henrik Fogh stand am Kopfende des Bahnsteigs von St. Moritz. Aus dem letzten Waggon stiegen Jugendliche. Sobald er Christine erkannte, verließ er den Bahnsteig und ging die Via Dimlej entlang, die mit einer Brücke über die nördliche Bucht des Lej de San Murezza führte. Zwei Wagen der Kantonspolizei parkten dort, weiß und mit einem breiten orangefarbenen Streifen.
Die Via Signuria war keine sonderlich ansehnliche Straße. Lieferwagen vor Fabriktoren, Geschäfte und Lagerräume. Dennoch gab es in diesem Abschnitt der Straße ein zweistöckiges Häuschen, das ein Berliner Ärztepaar erworben hatte und gelegentlich einer PALA U-Gruppe zur Verfügung stellte. Vom Reichtum des Ortes hatte das Gebäude höchstens den schweren Eisengitterzaun abbekommen, ansonsten war es ein weiß gestrichener Zweckbau aus den fünfziger Jahren. Fogh folgte dem Straßenverlauf und wartete hinter einem weißen Lastwagen.
Die Gruppe bog nach wenigen hundert Metern vom Bahnhof in die Via Signuria und nahm das Haus mit Getöse in Besitz. Keine sieben Minuten später standen die Jungen und Mädchen ohne ihr Gepäck auf der Straße. Einige schlenderten hierhin und dorthin, auch auf die Lastwagen der Dachpappenfirma zu. Christine gluckte sie zusammen, und so liefen sie die Straße wieder zurück über die Brücke in die Stadt hinein. Der Schnee war in Nieselregen übergegangen.
»Was läuft überhaupt?«, fragte Tina. »Wir gehen einfach so in eine Vorstellung, und nachher ist das eine üble Schnulze.«
»Oder ein Porno«, sagte Nathan.
»Ich denke, ihr seid ganz fit mit dem Internet«, sagte Christine. »Keiner von euch hat nachgesehen? Ihr verlasst euch auf mich? Na, Mahlzeit!«
»Warum nicht? So schlecht ist ja dein Geschmack nicht, Christine«, meinte Tina.
»Nettes Kompliment. Ich hatte die Wahl zwischen
Die
Musi spuilt im Alpenland
und einem Zeichentrickfilm, in dem ein kleiner Frosch die Welt erkundet und die Freuden des Zähneputzens erfährt. Was meint ihr?«
»Ja, ja, spinn weiter, Christine!«
»Ich hab’s«, sagte Ole und mühte sich, Schrift auf dem Display in seinen Fingern zu entziffern. »Hey, Leute, um 14 : 15 Uhr läuft da
Vampir-Piraten II
!«
Freude bei den Jugendlichen in Regenklamotten, heimliche Freude bei Christine.
»Ey, der ist 3-D.«
Christine dämpfte die Erwartungen. »Ich glaube nicht, dass der in einem kleinen Kino in 3-D läuft, Freunde des Blutes.«
»Haben Sie Teil I gesehen?«, fragte Ole.
»Nein, muss ich?«
»Nö, aber der war Krasscore. Vor allem der
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