Jung genug zu sterben
Schlüssel so leise zurück, dass es niemand hören konnte. Dann öffnete sie sie langsam und schaute in den Flur. Finster. Nichts. Sie trat ein, zwei Schritte barfuß auf den Flur hinaus. Jenissejs Tür schräg gegenüber war kahl und nichtssagend. Einen Lichtschimmer unter der Tür oder durch das Schlüsselloch hätte sie sehen müssen.
Aber Licht drang unter einer anderen Tür hindurch.
Also doch!
Vielleicht war ein neuer Gast angekommen. Ein Wanderer. Warum sollte nicht jemand bei Mondschein laufen. Oder mit Lampe?
Dann fiel ihr ein, wem das Zimmer am Ende des Gangs gehörte: Riccarda. Kein Gästezimmer, sondern ein Bestandteil der Wohnung, die der Geschäftsführerin zur Verfügung stand.
Personal
stand dran.
Vielleicht ist es nur die Geschäftsführerin – dadrin.
Melina ging zurück in ihr Zimmer, schloss die Tür leise hinter sich und suchte ihre Jeans und ihre Bluse.
Soll ich Jenissej wecken? Nein, wozu? Ihn aus dem Schlaf reißen, wegen nichts? Blamiere ich mich, wenn ich nachts klopfe? Wenn schon.
Halbwegs bekleidet ging sie zum Flur hinaus. Noch immer war Licht in Riccardas Zimmer. Riccarda hatte wohl nur selten hier übernachtet und war täglich nach Tirano gependelt. In dem Raum war vermutlich auch das Putzzeuguntergebracht. Vielleicht hatte nur jemand das Licht vergessen?
Sie klopfte nicht. Stattdessen drückte sie langsam die Türklinke.
Liegt jemand im Bett und liest? Dafür ist es zu hell.
Sie sah sofort einen Mann, der mit dem Rücken zu ihr saß. Vor einem Computer, auf dem Bilder zuckten.
Melina öffnete die Tür weiter.
»Jenissej …?«
Er fuhr herum. »Herrgott, kannst du einen erschrecken! Mitten in der Nacht.«
Sie ging hinein und schloss die Tür leise hinter sich. »Mitten in der Nacht. Was wird das hier? Es ist Riccardas Zimmer.«
»Natürlich. Und das ist Riccardas Computer. Ein Uraltgerät. Aber sieh dir das hier an!«
»Ein Iglu. – Was ist damit?«
»Lenas neuester Film! Ich habe mich gefragt: Wenn Lena bei der letzten Reise von PALAU hier war, könnte sie diese Riccarda getroffen haben. Wenn Riccardas Mörder auch hinter Lena her ist, verbindet die beiden etwas. Deshalb musste ich diesen Computer sehen. – Und tatsächlich! Lena hat ihre Dateien an Riccarda gemailt. Und die hat sie weitergeleitet an mich und dich. Riccarda war die Relaisstation, über die die Anonymisierung gelaufen ist.«
Melina setzte sich auf das Bett. Das Zimmer war wirklich klein. »Musste sie deshalb sterben?«
»Vielleicht. – Schau her!«
»Dann ist klar, dass Lena in Gefahr ist, Jenissej.«
»Ich weiß das. Wie sollen wir wissen, wo sie ist, wenn wir ihren Film nicht deuten können?«
»Gibt es andere Mails?«
»Nein. Habe ich auch gehofft. Nein, die Dateien sind das Einzige. Die ersten beiden hat Riccarda an uns weitergeschickt. Bei der dritten ging das nicht, da war sie schon tot.«
Melina erwischte sich beim Kauen der Fingernägel. »Dann hat jemand mitbekommen, dass Lena uns verschlüsselte Nachrichten zukommen lässt, oder wie ist das zu deuten? Welche Information hat der neue Film?«
»Sieh es dir an! Die Sache ist genauso vermaledeit wie bei den beiden anderen Dateien. Immerhin geht es um den Mond, es passt also nach wie vor zur Kepler’schen Sphärenharmonik, das ist gut. Ich müsste es Pia schicken.«
»Nein.«
Er sah sie erstaunt an.
»Nein«, schob sie nach, »Pia ist ja da auf der Hütte und nicht in Berlin.«
»Du hast recht, ich schicke die Datei an Schroeter. Mein Cutter. Kluger Bursche. – Du zitterst, Melpomene.«
52
Wolkenfahnen schwebten durch das Tal des Palü-Gletschers. Melina freute sich im ersten Moment, als sie das Fenster auf der Alp Grüm öffnete: Es gab keine kleinen Stellen schmutzigen Schattenschnees mehr, und auch der Gletscher war nicht mehr grau belegt, sondern alles war weiß bezogen, von den immer nur kurz durchblitzenden Spitzen des Curnasels über den Piz Varuna und den Piz Cambrena – das ganze Vadret da Palü hinunter war weiß, das Geröll und die Wiesen bis zum unglaublich türkisfarbenen Lagh da Palü etwa dreihundert Meter unterhalb des Bahnhofs.
Die frühen Dienstagsstunden hätten einen guten Wintermorgen abgegeben. Stattdessen war es einer der Tage kurz vor Mittsommer. Als Melina sich vom Kranz des Anisbrotes zwei Scheiben abschnitt, fiel ihr Blick durch das Restaurantfenster über die weißen Baumspitzen. Es schneite. Keine schweren Flocken, aber dichte Böen wie im Wirbel einer Schneewehe.
Auf dem Bahnsteig blieb
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