Jung genug zu sterben
die Weitsicht des aufrechten Gangs. Es ist undenkbar, dass nur die Männer Ausschau hielten. Und die Frauen als dicke, dröge Hennen die Kinder hinter sich herzottelten. Nein, die Frauen dieser Zeit mussten ebenfalls wachsam sein, schnell und schlau. Ihr Überleben hing auch davon ab, dass sie sehnig und beharrlich waren. Sie mussten den Nachwuchs fassen und mit weiten, schnellen Schritten flüchten können. Notfalls einem Raubtier in die Augen blicken und einen Ast nehmen, um es zu erschlagen. Weil nicht immer die Männer dabei sein konnten. Eine solche Frau dürften schon die Männer von damals attraktiv gefunden haben, eine toughe Partnerin. Das könnte der Grund sein, dachte er und sah Noëlle an.
Als könnte sie Gedanken lesen, öffnete sie die Augen. »Wir fliegen noch?«
»Ja«, sagte er. Und es war sein einziges Lächeln während dieses Fluges.
»Was ist?«, fragte sie.
»Ich habe über das Gehirn und seine Entwicklung nachgedacht«, log er.
»Oh.«
Um nicht weiter zu lügen, machte er sich tatsächlich mit dem Gedanken vertraut. Er griff auf eine Eingebung zurück, die er zuvor, bei der Warterei auf dem Flughafen, nicht ausgesprochen hatte. »Ich denke über einen neuen Artikel nach. Es könnte darum gehen, dass wir jederzeit mit mehreren Gehirnen denken. Das eine ist das der Gegenwart, jedenfalls nehmen wir das an. Daneben gibt es Hirne aus der Vergangenheit. Wir denken auch mit ihnen.«
Sie verengte minimal die Augen. Zwischenfragen stellte sie nie, wenn ihr Chef einen Gedankengang erläuterte. Aber sie hatte diesen Reflex – einen Gedanken zu fixieren wie ein Beutetier.
»Wir sind in der Lage, mit den Gehirnen unserer Vorfahren zu denken.«
Eine Stewardess lächelte gequält, während sie ein Tablett feuchtwarmer Gesichtstücher vor ihrer Brust feilbot.
Er überging sie. »Mehr noch. Wir haben die Gehirne unserer tierischen Vorfahren, aus dem Beginn der Evolution, immer griffbereit dabei. – Die spinnen doch, warme Tücher auf dem Flug von Berlin nach Zürich. – Sie wissen, was mein Freund David J. Linden mit dem Eiskugelmodell meint?«
Noëlle ließ sich von Gedankensprüngen nicht irritieren. Sie zuckte nur mit einer Braue.
»Er meint, das menschliche Gehirn sei aufgebaut wie eineEistüte mit mehreren aufeinandergeschichteten Kugeln Eis. Die Natur hat einmal so etwas wie ein Allerweltshirn entwickelt. Gespeichert sind dort die Funktionspläne für das Atmen und die Nahrungssuche, die überlebensnotwendige Reaktionsfähigkeit. Dieses Standardhirn hat die Natur nie richtig überarbeitet. Es gibt eine Version 1.3 oder 1. 4. Sagen wir, bei uns ist es 1.9.2.«
Noëlle lächelte.
»Die Evolution hat es entweder nicht geschafft, eine komplett neue Version zu entwickeln. Oder – und das ist meine These – sie hat ihre Ressourcen schonend eingesetzt. Alle Energie floss in ein anders Projekt: eine neues Gehirn. Eines, mit dem höher entwickelte Lebensformen leben konnten. Einfache Problemlösung, Erinnerungsvermögen. Das neue Modell wurde einfach auf das alte draufgesattelt. Die Natur hat also die alte Pferdekutsche beibehalten und ihr einen Benzinmotor draufgebockt. Das ist für Linden die zweite Eiskugel.«
Noëlle nickte. Nicht bewundernd. Sie verstand.
»Und so ging es weiter. Die dritte Eiskugel, für Säugetiere. Jagen, Planen, räumliches und zeitliches Denken. Das Problem bei dieser Konstruktionsmethode ist zweifellos, dass mehrere Systeme, alte und neue, miteinander kooperieren müssen. Was machen wir, wenn die Räder des Pferdewagens zu wacklig werden für den Motor und die moderne Karosserie? Die Natur ist da nicht sonderlich erfinderisch, sie setzt auf das Altbewährte. Warum soll sie ein Wagenrad neu erfinden? Anstatt einen neuen Unterbau zu erfinden, mit Stoßdämpfern und Aquaplaning-Autoreifen, verwendet sie weiterhin die Holzräder. Aber sagen wir, sie entwickelt eine Methode, sehr viele Holzräder zu reproduzieren, die sofort ausgetauscht werden, sobald sie abgenutzt sind. Die Naturarbeitet mit Provisorien, soweit sie sich im Prinzip als tauglich erwiesen haben. Die letzte Eiskugel … Folgen Sie mir?«
»Ja.«
»Die letzte Eiskugel, ganz obendrauf, ist erst kürzlich dazugekommen. Es ist die Großhirnrinde. In diesem Ausmaß nur beim Menschen zu finden. Sie verteilt sich über den ganzen oberen Hirnbereich, sie nutzt den Rest des Schädelraumes aus und faltet sich, um eine größere Oberfläche zu haben.«
»Ich habe mich immer gefragt, warum das Gehirn diese
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