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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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Falten hat«, sagte Noëlle.
    »Ja, eben, um seine Oberfläche zu vergrößern. Der Schädel des Menschen kann ja nicht viel größer werden.«
    »Wieso?«
    »Denken Sie an die Geburt! Ein Ballonschädel passt nicht durch den Geburtskanal.«
    Sie lachte.
    »Dort in der Großhirnrinde findet das Entscheidende statt. In diesen paar Millimetern Schicht liegt das, was Sie und mich als Menschen ausmacht. Das ist das Reich der Ideen. Die Phantasie. Die Imagination. Unsere Träume. – Ich habe noch jedes Mal, Noëlle, wenn ich in ein Gehirn interveniere, wenigstens für Sekunden gezögert und mir vorgestellt, dass ich in die Gedankenwelten eines Menschen eingreife.«
    Er nahm einen Schluck Wasser und fuhr fort, während unter ihnen Menschen in Münchner Biergärten ihre Mittagspause mit einem Radi, einer Brezel und einem freilich alkoholfreien Bier verbrachten.
    »Das Bild von den übereinandergeschichteten Eiskugeln verdeutlicht sehr schön den Aufbau unseres Gehirns. Nur durch die Evolutionsgeschichte und das Prinzip, alte Teileweiter zu verwerten, ist zu verstehen, weshalb es die deutlich voneinander abgegrenzten Hirnareale gibt: Stammhirn, Kleinhirn, Großhirn   … Das ist alles andere als ein genialer Bauplan. Niemand würde ein Gehirn heute noch so entwerfen. Man würde einen einheitlichen Speicherraum bevorzugen, ausschließlich mit Supraleitern ausgestattet, das Neueste vom Neuen. Stattdessen – wie gesagt – fährt immer noch Großvaters Pferdekutsche mit. Worauf ich hinauswill, bei meinem Artikel, das ist der Vorteil, den wir uns aus diesem zusammengemurksten Haufen Gehirnmasse verschaffen können. Einer davon ist, dass wir die alten Gehirnareale getrennt voneinander aktivieren können. Die Forschung hat das vernachlässigt.«
    Der Kapitän nuschelte Unverständliches über die Flughöhe und die Alpen. Das Einzige, was zu verstehen war, waren die Wörter »Zürich« und »Degrees«.
    »Sie kennen das auch: Sie sehen etwas Appetitliches, und schon aktiviert Ihr Säugetiergehirn den Speichelfluss. Oder Sie hören ein beängstigendes Geräusch, richten sich auf, als stünden Sie im hohen Gras der Savanne, und spitzen die Ohren. Wir haben sogar ein zweites visuelles System zur Verfügung, wussten Sie das? Die Natur hat es für unsere Freunde, die Lurche, erschaffen. Sie können Beute fixieren, nutzen aber zur Umsetzung der Wahrnehmung andere als unsere Augen. In uns Menschen ist dieser Amphibien-Apparat, wir können ihn nur nicht nutzen. Wir können nur in Versuchen feststellen, dass mancher Blinde in der Lage ist, etwas zu erkennen, dass er gar nicht
sehen
kann. Wahrscheinlich wird er in diesem Moment zum Frosch. An der Stelle können wir ansetzen, um die Nerven mit einem künstlichen Sensor zu versehen. Vielleicht können Blinde dann wieder sehen. Aber nur, weil sie es jetzt schon können.«
    Diesmal musste sie unterbrechen. »Das ist das, was Professor Zucker macht?«
    »Bei allem Unsinn, den er verzapft   … Mit seinen Technikern ist er vermutlich auf dem richtigen Weg. Wo er recht hat, werde ich nicht streiten. Allerdings kapiert er das mit dem Froschhirn nicht. Er versucht immer noch, unsere Sehnerven zu aktivieren, als wenn die nicht tot wären. Kein Wunder, dass er seit Jahren nicht vorankommt. Auf mich hört er nicht, das wissen Sie.«
    Sie nickte und sah auf die Uhr.
    »Ich möchte übrigens nicht, dass Sie bei der Sektion dabei sind.«
    Sie sah ihn an wie einen Frosch mit Sonnenbrille. »Nicht?«
    »Nein, organisieren Sie mir einen Wagen, damit ich vom Uniklinikum schnell ins Hotel komme. Suchen Sie die Unterlagen für die T4 4-Reihe heraus und bereiten Sie alles so vor, dass ich sie umkonstellieren kann. Sie müssen kein Protokoll fertigen. Es geht mir bei der Sektion nur um einen Ja-Nein-Befund. Detailbericht ist nicht notwendig.«
    Der Steward stand neben ihnen und hatte die vorgebeugte Haltung einer Gottesanbeterin. »Professor Lascheter?«
    »Ja   …?«
    »Wir würden Sie als Erstes hinausbegleiten. Unser Geschäftsführer würde sich geehrt fühlen, wenn er Sie und Ihre galante Begleitung zu einem Umtrunk in der VI P-Lounge begrüßen dürfte.«
    »Ich habe nur zwei Wünsche, junger Mann. Erstens: Ich würde gern erstmal landen, bevor ich aussteige. Und zweitens, sagen Sie Alexander, ich nehme es ihm übel, dass er mich bei Angela versetzt hat. Schöne Grüße, ich schicke ihm demnächst eine Kiste aus dem Médoc.«
    »Einen Moment, Herr Professor, ich glaube, das muss ich notieren.«
    »Das

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