Jung genug zu sterben
rechter Hand der Fußballplatz. Melina zog an einer Kordel und stieg an der Haltestelle
J8
aus. Der Zug bog Richtung Abenteuerspielplatz ab. Melina schloss das als Reiseziel der beiden Leute aus. Auf dem Spielplatz würden sie die große Kehre fahren und zurückkommen. Dann würde es zwischen einigen der 24 Hauptgebäude hindurchgehen. Die vorletzte Station war der
Hauptkanal,
danach wären sie wieder am Infohäuschen. Vielleicht wollten sie einfach Zeit vertrödeln, dachte Melina.
Erst vor dem J 8-Gebäude schüttelte sie den Kopf. Warum hatte sie eigentlich auf die Sprechstunde gewartet? Die Leute würden sicherlich nicht erst um 11 Uhr in ihre Büros kommen. Sie umging den Warteraum und suchte das Schild
Direktion
.
Auf ihr Klopfen reagierte niemand. Sie trat ein. Der Raum war leer. Melina entschied sich zu warten. Man hatte einen guten Blick. Neben dem Fußballplatz konnte man einen Teil der Kuppel vom
Zucker - Institut
sehen. Akten, Schreibtisch,Besucherstühle, Ficus benjamini, eine Reproduktion von Picassos
Kind
. Sie sah auf die Uhr.
Inzwischen sind die beiden Dicken mindestens zweimal im Kreis gefahren.
Sie ging an den Regalwänden entlang. Es gab Ordner mit den Aufschriften
Rüstzeit, Seminare, Ausflüge, Touren, Reisen
… Die Aktenordner waren mit Daten versehen und bis auf das laufende Jahr vorhanden, auch die in der Rubrik
Reisen
.
Wie fühlt es sich an, das Ding rauszuziehen? Die Akte schnell öffnen, blättern. Wie lange brauche ich dafür? Letzte Reise Schweiz. Kann ja nicht dauern. Liste suchen. Lenas Name. Ja oder nein.
Eine Stimme auf dem Flur, ein Name wurde gerufen. Dann nichts. Ein Rasenmäher auf dem Fußballplatz, einer, der das Ding fährt und sich darüber freut.
Die Akte.
Wenn ich die Tür offen lasse, müsste ich hören … Die schmeißen mich hochkantig raus. Melden es bei
Zucker
. Wenn ich nicht so ein Angsthase wäre!
Für einen Augenblick tippte Melina mit der Kuppe des Zeigefingers an den Aktenrücken, so als habe sie damit schon einen ersten Schritt getan. Gespür für die Beute aufnehmen.
Ohne Ankündigung flog die Tür auf, und eine Dame mit Dutt und in einem Kleid aus Gelb und Orange und Riesenblumen trat ein. Kurze Begrüßung, freundliche Erkundigung. Der Name Lena. Die Frau ging nicht zu der bewussten Akte im Regal, sie aktivierte ihren Computer.
»Lena, Lena … Und weiter?«
»Hm?«
»Es gibt viele Lena heutzutage und hierzulande«, wusste die Dame mit dem Dutt. Die großen Blumen auf dem Kleidwagte Melina inzwischen in die Gruppe der Orchideen einzuordnen.
Melina überlegte. »Jenisch. Lena Jenisch.«
»Moment – nein. Tut mir leid, ich habe auf der Liste der Fahrt ins Engadin gar keine Lena. War sie schon mal bei uns?«
»Natürlich.« Sie überlegte, ob das wirklich so natürlich war. »Jedenfalls bei einigen Tagestouren müsste sie dabei gewesen sein.«
»Ich habe alle Namen, Augenblick. – Ja, stimmt. Hm. Hier steht: Lena Jenisch-Jones?! Ist ja ein richtiger Zungenbrecher. Kann das sein: Jenisch-Jones?«
»Ich weiß nicht. Kann sein. Bei mir hat sie immer nur Jenisch als Nachnamen angegeben. Sie meinen, es kann nicht sein, dass sie bei dieser Reise in die Schweiz dabei war? Vielleicht wurde sie nachgemeldet?«
»So oder so – dann stünde das in meiner Liste.« In die Antwort der Orchideenlady mischten sich erste Partikel der Abwehr unberechtigter Vorwürfe.
»Sie kennen Lena nicht persönlich?«, fragte Melina.
»Kindchen, wissen Sie, wie viele Jugendliche wir verwalten? Ich bin froh, wenn ich ein paar Namen behalte. In meinem Alter wird das Gedächtnis immer schlechter.«
»Wen könnte ich noch fragen? Wer hat die Reise geleitet?«
»Ich darf keine Auskünfte geben. – Moment mal, Lena … Ist das die mit den Schwererziehbaren?«
»Schwer- … – O ja, sie hat mir viel erzählt von den Jugendlichen hier. Sie muss bei ihnen gewesen sein und war richtig stolz auf die Verantwortung.«
»Und ich erinnere mich an den Papierkram, den das verursacht hat: eine Minderjährige, die bei Schwererziehbarenanpackt!« Die Empörung war offenbar nur gespielt. »Dann erinnere mich an sie. So eine Kleine mit bunten Haaren? Ja, ja, lief immer mit ’nem Schmollmund rum, aber ein aufgewecktes Kerlchen.«
Mehr noch als die Wortwahl verursachte die Vergangenheitsform
lief
ein Schaudern bei Melina. »In letzter Zeit haben Sie sie aber nicht auf dem Gelände gesehen?«
»Nein, ich habe sie überhaupt nur zwei- oder dreimal gesehen, denke
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