Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
der gesamten Stoffwechselenergie des Körpers. Bei einem Erwachsenen verbraucht unser Gehirn noch 20 bis 25 % der Körperenergie; sein Gewicht macht dann nur noch 2 % des Körpergewichts aus. Das Gehirn ist also einer der Hauptabnehmer von Stoffwechselenergie, vor allem in Form von Glukose (Traubenzucker).
Sobald ein Baby auf der Welt ist, arbeitet sein Gehirn mächtig an seiner Organisation und Myelinisierung. Das ist der Prozess, bei dem die Fortleitungskabel der Nervenzellen, Axone genannt, von einer fettigen, elektrisch gut isolierenden Schicht namens Myelin umgeben werden, einer Substanz, die zu 80 % aus Fetten (davon 15 % Cholesterin) und zu 20 Prozent aus Proteinen besteht. Die Myelinisierung erhöht die Fortleitungsgeschwindigkeit der elektrischen Signale und isoliert die einzelnen Axone voneinander. Verantwortlich für die Produktion des Myelin ist ein spezieller Typ von Gliazellen. Oligodendrozyten nennt man sie im Gehirn, im peripheren Nervensystem heißen sie Schwann-Zellen (nach ihrem Entdecker Theodor Schwann, 1810–1882). Die Nervenfasern des Rückenmarks werden schon ab dem fünften Schwangerschaftsmonat myelinisiert, im Großhirn beginnt die Myelinisierung dagegen erst im neunten Monat, also kurz vor der Geburt, und dauert die nächsten fünf Jahrzehnte an. Das Gehirn entwickelt sich also hinsichtlich der Myelinisierung von der Geburt bis zum 50. Lebensjahr weiter! In der frühen Kindheit bestimmt dieser Prozess neben der Verdrahtung der Gehirnareale mit anderen Strukturen, wann welche Gehirngebiete »online« gehen können. Welche Fähigkeiten ein kleines Kind wann beherrscht, geht parallel einher mit der Myelinisierung des für die spezifische Fähigkeit zuständigen Gehirnareals. Wie beim Kleinkind gilt auch im Alter: Wo Myelin fehlt, werden Reaktionen und Rechenwege langsamer. Erst jenseits des 60. Lebensjahres nimmt die Myelinmenge ab ebenso wie die Anzahl der Gliazellen, deren Komplexität Alterungserscheinungen zeigt.
Klug ausjäten
Während im ersten Lebensjahr das Gehirn um das Dreifache wächst und sein Gewicht von einem Viertel auf drei Viertel des erwachsenen Gehirngewichts steigert, verlangsamt sich dieser Prozess im zweiten Lebensjahr. Jetzt überwiegt ein anderes Phänomen: Fast so wichtig wie das Wachsen von Nervenzellen ist es, Synapsen, deren Bildung – wie wir gesehen haben – nach der Geburt besonders angekurbelt wird, zu beseitigen. Allein die Großhirnrinde büßt in dieser Zeit etwa 20 Milliarden Synapsen täglich ein. Dieses Ausjäten von Synapsen ist vor allem wichtig für das Entwicklungspotenzial eines Kindes. Ein Überschuss an Synapsen initiiert einen von Umweltreizen abhängigen Ausleseprozess, der die Gesamtqualität einer Fähigkeit festlegt. Erst die Eliminierung verirrter und unbrauchbarer Synapsen lässt die Verarbeitungsprozesse im Gehirn effektiv ablaufen. Neuronale Netze werden so innerhalb der ersten fünf Lebensjahre zu effizienten Maschinen der Informationsverarbeitung. Wie sich das Gehirn dauerhaft für eine bestimmte Art des Denkens, Wahrnehmens oder des Handelns verschaltet, darüber entscheiden die Umwelteinflüsse. Solange ein Überschuss an Synapsen vorhanden ist, bleibt das Gehirn in höchstem Maße formbar und kann sich in eine Vielzahl verschiedener Richtungen entwickeln. Mit dem Abbau des Synapsenüberschusses sind auch die sensiblen Phasen für bestimmte Fähigkeiten, z. B. der Erwerb der Muttersprache, beendet. Der Vorgang zeigt aber auch, dass durch das Einüben von Routinen und Denkprozessen ein Mehr an Denkkapazität mit weniger neuronalen Verschaltungen geleistet werden kann. Dieses Phänomen begegnet uns auch im Alter: Zwar tritt in einigen Gehirnarealen ein enormer Verlust von Rechenkapazität auf, auf der anderen Seite werden aber für bestimmte Aufgaben nur sehr wenige synaptische Verbindungen benötigt, da das Gehirn weiß, wie die Aufgabe am effektivsten zu lösen ist.
Pubertäre Baumaßnahmen
Während der Pubertät erreicht die Gehirnentwicklung noch einmal einen Höhepunkt. Die gefühlsmäßige Instabilität, die pubertierende Jugendliche vor allem auszeichnet, wurde lange mit hormonellen Veränderungen oder uneinsichtigen Eltern, die den Jugendlichen nicht genügend Freiheiten einräumen, in Zusammenhang gebracht. Mittlerweile gibt es aber Belege dafür, dass es sich schlicht und ergreifend um eine vorübergehende Baumaßnahme im Gehirn handelt, die zu Anpassungsstörungen bei Pubertierenden führt. Noch bis vor wenigen Jahren
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