Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
muss, bevor man umblättert, und dabei Personen, Orte und Zusammenhänge der Geschichte zwischenspeichern muss.
Während das Arbeitsgedächtnis in seiner Speicherfähigkeit stark eingeschränkt ist, hat das Langzeitgedächtnis eine fast unerschöpfliche Kapazität. Für autobiographische Erinnerungen und das Faktengedächtnis fungiert der Hippocampus als eine Art Filter, der entscheidet, welche Informationen länger abgespeichert bleiben sollen und welche nicht. Der Speicherort selbst ist allerdings die Großhirnrinde. Was die Menge der Erinnerungen betrifft, die wir abspeichern können, macht die Großhirnrinde ihrem Namen alle Ehre: Ernst zu nehmende Berechnungen deuten darauf hin, dass Menschen in ihrem Langzeitgedächtnis den Speicherinhalt von zwei Millionen CD s (ca. 1,4 Pentabyte) ablegen können.
Abbildung 18: Komponenten des Gedächtnisses
Die zeitlichen und funktionalen Aspekte der groben Gedächtnisorganisation im menschlichen Gehirn.
Die Sorge, das eigene Gedächtnis im Alter zu überfordern, ist also unbegründet, zumindest was den Speicherplatz angeht. Im Gegenteil, wer sich viel beibringt, hat es leichter, Assoziationen zu neuem Wissen herzustellen und dieses dann umso sicherer abzuspeichern bzw. abzurufen. Er baut sogar kognitive Ressourcen auf, die im Alter noch wichtig werden können (siehe Kapitel 7): Wer bereits viel weiß, lernt leichter und schneller Neues und ist im Alter besser gewappnet gegen den Verlust von Nervenzellkontakten und Neuronen (für eine genaue Erklärung der biologischen Ursachen siehe Kapitel 8).
Aber nicht nur ein älterer Mensch, der viel weiß, kann noch gut lernen. Ein Mensch, egal welchen Alters, der gerne lernt, lernt auch leichter. Denn positive wie negative Gefühle üben einen maßgeblichen Einfluss auf das Gedächtnis aus. Verantwortlich für die Steuerung dieses emotionalen Verhaltens ist das limbische System (Abb. 19).
Abbildung 19: Limbisches System
Das limbische System gehört zu den ältesten Strukturen des Wirbeltiergehirns. Beim Menschen ist es an der Hervorbringung und an der Wahrnehmung von Emotionen beteiligt und fungiert als Filterstruktur beim Übergang vom Kurz- zum Langzeitgedächtnis (für Fakten und autobiographische Erinnerungen).
»Limbisch« leitet sich ab von lateinisch limbus = Saum, da die dazugehörigen Strukturen den Balken (auch Corpus callosum genannt, eine Datenautobahn zwischen den beiden Großhirnhälften) wie ein Gürtel oder Ring umgeben. Das limbische System gliedert sich in die Amygdala (Mandelkern), den bereits erwähnten Hippocampus (Seepferdchen), Teile des Hypothalamus und die Gyrus cinguli. Wie ein Speichenrad schiebt es – mit dem Zwischenhirn als Radnabe – von innen an die Großhirnrinde heran und kleidet sie so quasi von innen aus. Das limbische System ist der Filter, den die Informationen für das autobiographische und das Faktengedächtnis passieren müssen. Es ist zugleich die Instanz, die relevante Informationen aussortiert, mit Emotionen versieht und bündelt, bevor diese in weit verteilten Gebieten der Hirnrinde zur Ablagerung kommen.
Diesen Prozess kann man sich ähnlich vorstellen wie die Postverteilung in einem großen Postamt. Die neurobiologische Erkenntnis, dass das limbische System neben seiner Gedächtnisfunktion vor allem an der emotionalen Bewertung von Erlebnissen beteiligt ist, ist noch relativ neu. Lernen, Gedächtnis und Gefühle hängen also hirnanatomisch ganz eng miteinander zusammen. Entsprechend ist eine positive Einstellung dem Lernen gegenüber eine wichtige Voraussetzung dafür, dass das Gelernte auch gespeichert wird. Wer im Alter etwas Neues lernen möchte, sollte dies immer vor Augen haben. Geschieht Lernen unter Zwang und mit Widerwillen statt spielerisch der eigenen Neugierde folgend, speichern wir die Lernsituationen als negativ ab. Dies erschwert nicht nur den Umgang mit neuen Informationen, sondern führt auch dazu, dass neue Informationen in negativ besetzten Situationen schlechter abgespeichert werden.
»Das Alter ist ein
herrlich Ding. Aber
nur wenn man nicht
verlernt hat, was
anfangen heißt.«
Martin Buber
Wie bereits ausgeführt, wirken am autobiographischen und Faktengedächtnis vor allem die Schläfenlappenspitze mit dem Hippocampus und die Stirnlappen mit. Daneben ist der linke präfrontale Cortex am Faktengedächtnis beteiligt. Der rechte präfrontale Cortex dagegen ist für das Speichern und Abrufen von autobiographischen Erinnerungen verantwortlich. Für das
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