Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
Abrufens von Erinnerungen? Unabhängig vom Alter wird die Fähigkeit zu lernen generell zurückgeführt auf die Fähigkeit von Neuronen »plastisch« zu sein. Plastizitätbedeutet auf zellulärer Ebene, dass Neuronen sich in ihrer Funktion, also ihren Input- und Output-Charakteristika, und/oder in ihrer Struktur aufgrund von neuronaler Aktivität an Veränderungen in ihrer lokalen Umgebung anpassen können.
Ramón y Cajal und William James nahmen Ende des 19. Jahrhunderts unabhängig voneinander an, dass Nervenzellen sich in ihrer Funktion und Struktur bei plastischen Gehirnprozessen wie Lern- und Gedächtnisvorgängen verändern könnten. Heute werden plastische Prozesse im Gehirn vor allem auf Veränderungen der synaptischen Übertragungseigenschaften und auf strukturelle Veränderungen zurückgeführt. Die Grundlage für die Idee, dass Synapsen ihre Effektivität ändern können, schuf Donald O. Hebb. Der Vater der kognitiven Psychologie stellte Mitte des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal die Ideen von Cajal und James in den Kontext der zellulären Neurobiologie. Er machte sich vor allem Gedanken darüber, welchen Algorithmus eine bestimmte Kombination von Reizen haben muss, um zu spezifischen Veränderungen an Synapsen zu führen. Gemäß diesem, heute als Hebb’sche Regel bezeichneten, Modell wird eine Synapse zwischen zwei Nervenzellen dann verstärkt, wenn vor- (präsynaptische) und nachgeschaltete (postsynaptische) Neurone in einem gleichen, sehr engen Zeitfenster aktiv sind – also durch zeitliche Korrelation und damit durch Assoziationen . Dies erklärt auch, warum Assoziationen so wirkungsvolle Instrukteure der Gedächtnisspeicherung sind.
Aber auch den Mechanismen des Gedächtnisabrufs kommt man immer näher. Das Zitat »Spiel’s noch einmal, Sam« wird in dem Filmklassiker Casablanca zwar so nie gesagt (vielmehr: »Spiel es, Sam!«), aber es verdeutlicht doch, wie neuronale Netze im Hippocampus – dem Dirigenten unseres autobiographischen Erinnerungsvermögens – aus Bruchstücken von Mustern das gesamte neuronale Muster einer Erinnerung erzeugen. Umgekehrt wird man automatisch bei dem Stichwort »Casablanca« an dieses berühmte Zitat denken – oder ein anderes etwa »Schau mir in die Augen, Kleines«, welches so übrigens genauso wenig im Film fällt. Wir erinnern uns, indem Bruchstücke von Erinnerungsmustern aktiviert werden, häufig ergibt sich daraus eine korrekte Erinnerung, aber diese Musterergänzungen können eben auch zu Fehlern führen, bis hin zu kollektiven Gedächtnisverzerrungen, die dann ein kulturelles Eigenleben führen.
Die zentrale Frage, wie das Gehirn zwischen verschiedenen, aber doch sehr ähnlichen Situationen beim Vorgang des Erinnerns unterscheiden kann, lässt sich mittlerweile an Nagetieren untersuchen – mit Hilfe von Einzellableitungen im Hippocampus. Eine Studie legt nahe, dass Erlebnisse wie Zustände von Attraktoren gespeichert werden. Mit Attraktoren sind in diesem Kontext Autoassoziationen gemeint, die bewirken, dass ein Bruchteil eines gespeicherten neuronalen Aktivitätsmusters ausreicht, um das gesamte Muster neuronaler Aktivität, welches während der Einspeicherung der Information aktiv war, zu reaktivieren. Die Komplettierung des Musters wird dann als Attraktorprozess bezeichnet und ist vergleichbar der Rekonstruktion eines Dinosaurierskelettes aus wenigen Knochenfundstücken – oder der Erinnerung ganzer Sequenzen unseres Lebens, wenn wir ein Foto aus einer bestimmten Zeit sehen oder einen bestimmten Geruch wahrnehmen, der mit einer bestimmten Lebensphase zusammenhing. Genau an dieser Stelle können gerade im Alter Fehler entstehen, denn bei der riesigen Menge an Erinnerungen kommt es leicht zu Überlagerungen (Interferenzen) oder Verzerrungen. Dass man später nicht mehr genau weiß, ob man selbst im Kindergarten schlimm gestürzt ist oder ob es die Schwester war, zeigt, dass Erinnerungen nach Jahren ihre konkrete Zuordnung einbüßen können. Aber oft genug vermögen wir selbst noch als Senioren eine riesige Fülle an Fakten und Erinnerungen abzurufen.
Wie aber schaffen es neuronale Netze in unserem Gehirn, innerhalb von Millisekunden ein Gesicht, ein Gebäude oder andere bekannte Objekte zu erkennen? Einer Theorie zufolge sind nicht alle Informationen in verteilten neuronalen Netzen gespeichert, sondern man nimmt an, dass es sogenannte gnostische Neuronen gibt, die allein bestimmen können, ob man eine Person in einem Bruchteil einer Sekunde
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