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Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)

Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)

Titel: Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Korte
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Ausweg suchen, also versuchen, sie zu vermeiden, oder ob wir uns dem Problem und der Lösungsfindung stellen. Anders gesagt: Sie entscheidet mit darüber, ob wir ein halb leeres oder ein halb volles Glas vor uns sehen. Aber nicht nur das: Bestimmte Sinnesreize bekommt die Amygdala sogar früher zugespielt als die Großhirnrinde. Dies bewirkt, dass wir manchmal in einem ersten Schritt Gefühlsregungen wie Wut, Freude, Angst oder Schreck empfinden, bevor wir in einem zweiten Schritt in Abstimmung mit der Großhirnrinde überprüfen, ob diese Reaktionen einer kritischen Kontrolle standhalten.
    Neben diesen Funktionen orchestriert die Amygdala unsere Kampf-oder-Flucht-Reaktion (fight or flight) des vegetativen Nervensystems, also das Verhalten, das auch ältere Menschen an den Tag legen, wenn sie sich in einer bestimmten Situation überfordert fühlen. Dabei aktiviert die Amygdala den Hypothalamus, der eine gewaltige Hormonkaskade in Gang setzt: Das Herz beginnt zu rasen, der Blutdruck steigt, die Haut wird blasser, man beginnt zu schwitzen, und die Pupillen weiten sich.

    Abbildung 23: Wie wir Gefahren erkennen
    Die Amygdala orchestriert die Kampf-oder-Flucht-Reaktion und kann dabei die Stressachse des Körpers aktivieren, bevor uns die eigentliche stressauslösende Situation bewusst wird.
    Diese weit verzweigten Verbindungen der Amygdala erklären, warum Gefühle in jedem Lebensalter fast jeden Aspekt unseres Denkens und Handelns prägen. Allerdings kann die Amygdala nicht unkontrolliert schalten und walten, sondern wird in ihrer »Macht« über den Rest des Gehirns vom Stirnlappen kontrolliert. Und genau diese Kontrolle wird mit dem Alter besser, nicht schlechter. Die Aufgabe der Amygdala besteht also vor allem darin, Gefühle zu erzeugen und zu verarbeiten sowie die Hormonsignale in den Körper hinein zu kontrollieren. Bewertet und kontrolliert werden die Gefühle jedoch in der Großhirnrinde. Hier erst erleben und empfinden wir Glück, Leid, Trauer, Ekel, Rachelust oder Liebe. Insbesondere der präfrontale Cortex, ein Bestandteil des Stirnlappens, und der Gyrus cinguli, der in der Großhirnrinde in der Mitte der Hirnhälften liegt, sind dafür verantwortlich, die emotionalen Informationen aus der Amygdala und anderen gefühlsverarbeitenden Zentren zu interpretieren und zu bewerten (Abb. 14). Ein Funktionsverlust im Gyrus cinguli verursacht z. B. einen Verlust der Antriebskraft. Selbst Menschen, die eigentlich ehrgeizig sind, werden dann unmotiviert und körperlich inaktiv. Vor allem fehlen ihnen die von Gefühlen geleiteten Entscheidungshilfen. So können Menschen mit einer Schädigung des ventromedialen präfrontalen Cortex nicht mehr das Risiko ökonomischer Entscheidungen abwägen.
    Schädigungen in diesen Bereichen wirken sich also maßgeblich auf die emotionale Grundstimmung und auch auf unser Urteilsvermögen aus. So führt ein Defekt im orbitofrontalen Cortex (Stirnlappen und Bestandteil des präfrontalen Cortex; Abb. 24) zu einem eingeschränkten sozialen Urteilsvermögen und zu einer schlechteren emotionalen Kontrolle – z. B. impulsiver Aggressivität. Die betroffenen Personen reagieren äußerst spontan, vehement und verlieren jede Hemmung. Diese Beispiele sollen zeigen, wie komplex der uns so natürlich erscheinende Vorgang in Wahrheit ist: Gefühle können die Leistungsfähigkeit jeder kognitiven Kompetenz entscheidend beflügeln oder behindern – und im Zuge des Alterungsprozesses des Gehirns werden wir immer besser darin, unsere Gefühle zu kennen und zu kontrollieren.

    Abbildung 24: Lage des orbitofrontalen Cortex im Stirnlappen
    Abgebildet sind auch andere für die Erzeugung und die Bewertung von Gefühlen relevante Gehirnareale.
    Die Faserverbindung vom orbitofrontalen Cortex zu Amygdala ist übrigens eine der letzten, die sich im Laufe der natürlichen Reifung des jugendlichen Gehirns entwickelt. Sie ist, wenn man so will, der letzte Schliff, den das Gehirn bekommt. Das macht es Pubertierenden auch so schwer, ihre jähzornigen Ausbrüche zu kontrollieren: Ihnen fehlt schlichtweg die Kontrollinstanz von der Großhirnrinde zur Amygdala, da der gesamte Stirnlappen sich in einem großen Umbauprozess befindet. Genau diese Verbindung ist es aber auch, die es älteren Menschen leichter macht als jüngeren, langfristige Ziele zu verfolgen und Wünsche aufzuschieben. Dieser Bereich des Gehirns entwickelt sich nicht nur durch die Myelinisierung der Axone bis in das 50. Lebensjahr hinein weiter, sondern

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