Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
Lösungen sucht man unter anderem dann, wenn die aktuellen Zustände unbefriedigend sind – ein hoher Noradrenalin-Spiegel signalisiert offensichtlich, dass Bedürfnisse nicht befriedigt sind, was negative Emotionen auslöst. Und diese Art der Noradrenalin-Ausschüttung ist im Alter vermindert.
Mit diesen Ausführungen soll nicht suggeriert werden, man könnte alle älteren Menschen quasi über einen »linkshemisphärischen Dopaminkamm« scheren und damit biochemisch vollständig erklären; vielmehr geht es darum, Grundtendenzen aufzuzeigen und häufig zu beobachtendes Verhalten mit aktuellen Ergebnissen der Psychologie und der Neurowissenschaften in Beziehung zu setzen – wie man sieht, gibt es erstaunliche Übereinstimmungen. Das gilt auch für die nächste Frage: Haben ältere Menschen eine bessere Kontrolle über ihre Gefühle als jüngere Menschen?
Emotionale Kontrolle
Es gehört zu den Errungenschaften des Alterns den emotionale Turbulenzen des Lebens mit mehr Flexibilität und Stabilität zu begegnen. Oder neurobiologisch ausgedrückt: Mit fortgeschrittenem Alter stehen die Gehirnareale, die Gefühle bewerten und kontrollieren, in einem besseren Einklang miteinander, als dies in der Jugend oder noch im jungen Erwachsenenalter der Fall war. Was aber nicht bedeutet, dass Gefühle im Alter unwichtiger werden! Unbewusst bekommen Emotionen sogar eine größere Bedeutung, wenn man älter wird, da man sich der Endlichkeit des Lebens bewusster ist und vieles dadurch eine andere Gewichtung erhält. Es gehört also zu den Mythen des Älterwerdens, dass Menschen in dieser Lebensphase emotional abstumpfen. Im Gegenteil, sie empfinden tief, nur haben sie diese Gefühle besser unter Kontrolle, und sie können die eigenen Gefühle besser beschreiben und einschätzen.
»Mein Herz sagt mir, ich soll dies, mein Verstand sagt mir, ich soll jenes tun« – eine Aussage, die man viel häufiger aus dem Mund eines 20-Jährigen als eines 60-Jährigen vernimmt: Mit zunehmendem Alter greifen Herz und Verstand, Gefühl und Denken immer besser ineinander. So kommt, um eine der vielen Untersuchungen, die diese Aussage untermauern, zu nennen, eine Langzeitstudie der University of Berkeley zu folgendem Ergebnis:
■Frauen in mittleren Jahren (50plus) verfügen im Vergleich zu jüngeren Frauen über eine stabilere Identitätsempfindung;
■sie haben eine präzisere Selbstwahrnehmung in sozialen Situationen;
■sie haben mehr Selbstvertrauen;
■sie haben mehr Kontrolle über das, was in ihrem Leben vor sich geht;
■und sie sind produktiver.
Bildgebende Verfahren belegen hierbei, dass auf neurobiologischer Ebene der »optimale« Einsatz beider Hemisphären eine Rolle spielt, da eine ausgewogenere Lebenseinstellung sowohl logisch-analytische (linkshemisphärisch) als auch nichtsprachlich-intuitive (rechtshemisphärisch) Fähigkeiten (Gefühle) einbezieht. Eine Reihe von Studien zeigt auch, dass eines der prominentesten Areale des limbischen Systems, die Amygdala, besser kontrolliert werden kann. Sie ist von besonderer Bedeutung für unseren emotionalen Haushalt – das gilt für Kinder, junge Erwachsene genauso wie für ältere Menschen. Nur dass ihr Einfluss sich über das Leben hinweg in seiner Gewichtung ändert.
Der Mandelkern, wie die Amygdala auch genannt wird, liegt paarig umgeben vom Großhirn jeweils an der Innenseite der Schläfenlappen (Abb. 23). Wird er z. B. bei einer Hirnblutung geschädigt, kann es bei den betroffenen Patienten zu einer »Gefühlsblindheit« kommen, sowohl was die eigenen Gefühle betrifft als auch die anderer, vor allem bezüglich Furcht, Angst und Aggression. Die Betroffenen empfinden selbst dann noch keine Angst, wenn sie in eine lebensbedrohliche Situation geraten. Wird die Amygdala funktionsuntüchtig, sind keine normalen menschlichen Beziehungen mehr möglich. So vermuten Forscher auch bei Autisten, die große Schwierigkeiten haben, mit anderen zu kommunizieren, eine Schädigung der Amygdala.
Aufgrund ihrer anatomischen Lage ist die Amygdala bestens gerüstet, alle Ereignisse emotional zu begleiten und zu bewerten. Sie ist hierbei nicht nur mit dem Hypothalamus, als wichtigster Schaltzentrale für die Ausschüttung von Stresshormonen, sondern auch in vielfältiger Weise mit der Großhirnrinde verbunden. Hier kann sie schon auf der Wahrnehmungsebene beeinflussen, was wir wahrnehmen und wie wir die Welt im wahrsten Sinne des Wortes erleben, z. B. ob wir aus einer Situation frühzeitig einen
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