Junge rettet Freund aus Teich (German Edition)
Lächel übrigens gar nicht, aber das merkt man erst nach einiger Zeit, wenn man sich nicht mehr von seiner ewigen Grinsrübe blenden lässt.
Dieses Jahr kommen uns Onkel Otto und Tante Mariechen nicht zu Weihnachten besuchen. Zum ersten Mal überhaupt, Onkel Otto ist beim Schneeschippen gestürzt und hat sich den Oberschenkelhals gebrochen. Oma ist ganz niedergeschlagen deshalb. Am besten wäre es, wenn Oma und Opa zu ihnen in die DDR fahren würden und ich zu Oma Emmi. Aber was tun mit Mutter? Ich möchte auf gar keinen Fall, dass sie nach Todtglüsingen mitkommt! Ich stelle mir vor, wie sie die ganze Zeit an meiner Seite klebt und unbedingt die Holzapfels kennenlernen möchte, und das wäre mir sehr peinlich. Wobei Herr Holzapfel ihr schön was husten würde. Und mit Rauchen wäre es auch Essig. Es kommt einem Wunder gleich, dass sie es immer noch nicht gemerkt hat, dabei bin ich jetzt schon bei fünf bis zehn Zigaretten täglich. Minimum.
Auf Todtglüsingen freue ich mich immer schon die ganze Woche. Ich war fast jedes Wochenende da und natürlich in den Herbstferien. Wenn ich am Samstag früh auf den Holzapfelhof komme, werde ich behandelt wie ein verlorener Sohn. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich von einem Tag auf den anderen nicht mehr käme und sie sich Riesensorgen um mich machen und mich vermissen würden, und dann, nach vielen Jahren, würde sich plötzlich eines Sonntagnachmittags die Tür des Wohnzimmers öffnen, und ich setze mich an die Kaffeetafel, als wäre nichts geschehen. Ich stelle mir vor, wie Frau Holzapfel Tränen vergießen würde, und selbst Frau Schlummbohm wäre gerührt, und Hummel würde sich gar nicht mehr einkriegen vor Wiedersehensfreude und die Tischdecke mitsamt Geschirr runterreißen. Na ja, Träumereien, aber es ist ein gutes Gefühl, sich das vorzustellen, oder was anderes Tolles, Elfmeter zu halten oder Leadsänger von Deep Purple zu sein.
Seit dem Kirschendiebstahl sind Ristoffs und Holzapfels ernsthaft miteinander verfeindet. Ich habe erfahren, dass sie sich schon vorher nicht grün waren. Jens wurde der Kontakt zu Manfred und Wilfried junior und sogar zu mir strengstens verboten, aber wir treffen uns trotzdem heimlich, weil wir nicht einsehen, was wir Kinder mit dem Streit der Erwachsenen zu tun haben. Ich habe einen seltsamen Traum, von dem ich regelmäßig heimgesucht werde:
Kai klammert sich in den Kirschbaum und wird von Herrn Holzapfel derart hineingeprügelt, dass er an den Zweigen festklebt. Das Leckermaul hat jetzt Gelegenheit, den Schmerz von der Pike auf kennenzulernen. Ich kann selbst spüren, wie die Schmerzen sich ausbreiten und ganz langsam wieder abebben, bevor der nächste Schlag auf einen anderen Körperteil folgt und sich die verschiedenen Schmerzbereiche überkreuzen. Am Ende der Lektion weiß man es genau zu unterscheiden: Der Schmerz kann fließen, rasseln, pochen, ziehen, brennen und reißen. Im Traum plumpst Kai aus dem Baum wie eine überreife Frucht. Herr Holzapfel hält erschöpft inne und tauft den Nachbarssohn schließlich den traurigen Kirschendieb . Dabei kann er eine Träne der Rührung nicht unterdrücken. Doch es geht noch weiter: In verkrümmter Haltung humpelt Kai Richtung Elternhaus. Er kann durch seine zugeschwollenen Augen nicht mehr richtig sehen, und so kommt es, dass er im Hof ausrutscht und in einen Trog mit frisch gemahlenem Mehl fällt. Das staubige Teufelszeug pappt an seinem blutigen Körper fest, und so kriecht er weiß ummantelt in die Wohnküche. Seine Blessuren sind durch das Mehl hindurch nicht sichtbar, darum denkt sein Bruder, dass der Junior sich einen Spaß erlaubt hat.
«Ei gucke mal, wen haben wir denn da? Ich glaub, das ist der Mehlgnom , der kommt uns besuchen.»
Brüllendes Gelächter.
Vater Ristoff schließt sich an. «Ja, gibt’s denn so was? Schnell noch einen Teller Suppe für unseren neuen Gast.»
Wieder lautes Gejohle. Mutter Ristoff setzt noch einen drauf: «Kinder, doch keine Suppe für den Mehlgnom, sonst geht er uns noch ein.»
Da liegt auch schon die ganze Ristofffamilie auf dem Boden vor Lachen.
Kai erholt sich von diesem schrecklichen Zwischenfall nie mehr und verrichtet seither auf dem Hof alle möglichen einfachen Arbeiten. Er ist meist sehr fröhlich, und man hat ihn gern um sich. Alle paar Tage ruft einer:
«Kai, mach uns doch die Freude und zeig uns dein Kunststück.»
Darauf hat der lustige Kasper schon gewartet. Er bestäubt sich aus einem Mehlbeutel und flitzt wie
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