Junge rettet Freund aus Teich (German Edition)
mussten vor kurzem aus ihrem schönen Häuschen in eine Zweizimmerwohnung ziehen, umgeben von Schloten und Schornsteinen. Wenn Martin das vorher gewusst hätte, hätte er sich nie im Leben darauf eingelassen. Ich erzähle ihm besser nicht, wie toll es in Todtglüsingen war, sondern tu so, als wäre ich die ganze Zeit zu Hause gewesen und hätte mich zu Tode gelangweilt. Ich war ja zwischendurch auch ein paar Tage zu Hause, und dort war es wirklich langweilig. Und es wäre sogar so langweilig gewesen, dass ich mit dem Rauchen angefangen hätte. Ziemlich clever von mir, finde ich, klingt jedenfalls logisch. Martin ist dann auch beeindruckt:
«Echt?»
«Man gewöhnt sich voll schnell daran. Ich hab schon wieder ’nen Schmachter.»
Mir fällt auf, dass ich tatsächlich einen habe.
«Wir können uns ja heute Nachmittag treffen, ich hab noch eine fast volle Schachtel Navy Cut.»
«Was hast du?»
«Navy Cut, die haben die amerikanischen Marinesoldaten im Zweiten Weltkrieg geraucht.» Martin versteht natürlich kein Wort, und ich lasse ihn extra im Unklaren, nachzufragen traut er sich nicht, weil er nicht als Idiot gelten will. Man kann richtig spüren, wie beeindruckt er ist. Jetzt habe ich zur Abwechslung mal einen Vorteil! Die Pausenklingel zwingt uns zurück ins Klassenzimmer.
Dann geschieht das, wovor ich am meisten Angst hatte: Herr Dierks betritt das Klassenzimmer. Ich kenne ihn bisher ja nur aus Erzählungen, aber genau so habe ich ihn mir vorgestellt: klein, mit Autofahrerbauch, pechschwarzen Haaren und unnatürlich starkem Bartwuchs, es kommt einem vor, als könnte man förmlich dabei zusehen, wie sich sein Gesicht im Laufe weniger Stunden eindunkelt. Morgens rasiert er sich nass und abends wieder, und zwischendurch schwingt er den Trockenrasierer, stelle ich mir vor. Er trägt eine Cordhose und den dunkelblauen Rollkragenpullover, von dem ich schon so viel gehört habe. Es heißt, er wechselt ihn nie. Keiner hat ihn jemals mit einem anderen Kleidungsstück gesehen. Seine stechenden Augen schweifen über die Klasse, bei jedem Einzelnen bleibt der Blick kurz hängen. Ich bin mir sicher, dass er sofort erkennen kann, wer gut und wer schlecht in Mathe ist. Mich guckt er an, als hätte er mich sofort durchschaut und als ob ich auf dem Gymnasium nichts, aber auch gar nichts verloren hätte. Ich weiß in diesem Moment, dass ich in Mathe versagen werde. Herr Dierks irrt sich nie. Auweia, da werde ich nichts zu lachen haben, so viel steht jetzt schon fest.
Als Erstes erzählt Herr Dierks, dass Rechnen und Mathematik nicht das mindeste miteinander zu tun hätten und dass die Schonzeit jetzt vorbei ist und sich während der kommenden beiden Jahre die Spreu vom Weizen trennt. Einige von uns würden bald merken, dass gut rechnen können nicht heißt, man ist auch gut in Mathematik. Im Gegenteil.
«Um mir ein Bild von eurem Leistungsstand zu verschaffen, stelle ich euch jetzt eine Frage. Ich bin gespannt, ob jemand die richtige Antwort parat hat. Also: Eine Reisegruppe von achtundvierzig Personen mietet einen Bus. Der Fahrpreis ist auf sieben Mark pro Person berechnet worden. Bei der Busfahrt fehlen jedoch sechs Personen. Dem Fahrer werden am Ende der Fahrt einundzwanzig Mark Trinkgeld gegeben. Wie viel hat nun jeder der Fahrgäste insgesamt bezahlt?»
Was? Wie bitte? Ich bekomme schlagartig feuchte Hände, und meine Zunge fühlt sich an wie ein Radiergummi. Im selben Augenblick, in dem ich mir die Aufgabenstellung vor Augen halten will, habe ich die Frage schon wieder vergessen. Wer waren noch mal die beteiligten Personen? Nur ruhig. Eine Reisegruppe, der Busfahrer, Fahrgäste. Was soll so eine Frage überhaupt? Damit kann doch kein Mensch etwas anfangen! Ich atme tief ein und aus und versuche, mich unauffällig in die Bank zu ducken, damit er mich übersieht, obwohl ich jetzt schon weiß, dass Herr Dierks in nichts mehr Übung hat, als Schüler zu bemerken, die übersehen werden wollen. Er weiß garantiert auch sofort, wer die Lösung hat und wer nicht. Er lässt eine Ewigkeit verstreichen. Wahrscheinlich aber nur eine Minute.
«Wer hat’s?»
Ich schaue mich um und zähle sieben Meldungen. Herr Dierks geht herum und lässt sich die Antwort von jedem Einzelnen ins Ohr flüstern. Dann baut er sich vor seinem Lehrerpult auf:
«Nur eine falsche Lösung, dafür aber sechs richtige. Was ist mit den anderen?»
Es folgt noch eine weitere Meldung. Wieder lässt sich Herr Dierks ins Ohr flüstern.
«Sehr gut,
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