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Just Kids

Titel: Just Kids Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patti Smith
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interessant waren, für neue Projekte: einen Bogen Folie, Wolfspelze, obskure Haushaltsgegenstände. Wir verbrachten Stunden bei Pearl Paints auf der Canal Street, dann fuhren wir mit der U-Bahn nach Coney Island, um auf der Strandpromenade zu bummeln und uns bei Nathan’s ein Hotdog zu teilen.
    Meine Tischmanieren fand Robert abscheulich. Das sah ich an seinem Augenaufschlag und daran, wie er den Kopf bewegte. Wenn ich mit den Händen aß, fand er, dass wir dadurch zu sehr auffielen, auch wenn er selbst mit nichts als einer bestickten Schaffellweste und diversen Glasperlenketten über dem nackten Oberkörper im Imbiss saß. Unsere kleinen Zänkereien mündeten meistens in Gelächter, besonders wenn ich ihn auf derartige Ungereimtheiten hinwies. Diese Streitereien im Diner behielten wir während unserer langen Freundschaft bei. Meine Manieren wurden nicht besser, dafür wurde seine Garderobe umso abwechslungsreicher und aufsehenerregender.
    Damals galt Brooklyn als außerhalb, abgeschnitten von der Action »in der Stadt«. Robert liebte Ausflüge nach Manhattan. Er wurde munter, sobald er den East River überquerte, und Manhattan war auch der Ort, an dem er später etliche rapide Häutungen durchmachte, persönliche wie künstlerische.
    Ich lebte in meiner eigenen Welt, träumte von den Toten und ihren entschwundenen Jahrhunderten. Als junges Mädchen hatte ich stundenlang die elegante Schrift kopiert, in der die Unabhängigkeitserklärung abgefasst war. Handschriften hatten mich immer fasziniert. Jetzt konnte ich diese obskure Fertigkeit für meineeigenen Zeichnungen verwenden. Islamische Kalligrafie zog mich in ihren Bann, und manchmal nahm ich die persische Halskette aus ihrem Seidenpapier und legte sie vor mich hin, während ich zeichnete.
    Bei Scribner wurde ich von der Telefonzentrale in den Verkauf befördert. Die Bestseller in diesem Jahr waren Das große Spiel ums Geld von Adam Smith und Tom Wolfes Electric Kool-Aid Acid Test, was die Polarisierung aller Lebensbereiche, die in unserem Land um sich griff, auf den Punkt brachte. Ich konnte mich mit keiner von beiden Seiten identifizieren. Ich fühlte mich abgeschnitten von allem außerhalb der Welt, die Robert und ich uns geschaffen hatten.
    Wenn ich niedergeschlagen war, fragte ich mich, was Kunstproduktion überhaupt sollte. Für wen war sie gedacht? Um Gott zu erheitern? Führten wir Selbstgespräche? Und was war das höchste Ziel? Die eigene Arbeit eingesperrt in den großen Kunst-Zoos zu sehen – im MoMA, dem Met, dem Louvre?
    Ich war süchtig nach Ehrlichkeit, fand aber in mir selbst Unehrlichkeit. Warum sich der Kunst verschreiben? Kunst als Selbsterkenntnis oder als Selbstzweck? Es erschien mir maßlos, noch mehr hinzuzufügen, es sei denn, man konnte tatsächlich Erleuchtung versprechen.
    Ich saß oft da und versuchte zu schreiben oder zu zeichnen, doch angesichts des hektischen Treibens auf der Straße und dazu noch des Kriegs in Vietnam schienen mir meine Bemühungen bedeutungslos. Ich konnte mich mit keiner politischen Bewegung identifizieren. Wenn ich versuchte, mich irgendeiner anzuschließen, hatte ich nur das Gefühl, mit einem weiteren bürokratischen Apparat konfrontiert zu werden. Ich machte mir Gedanken, ob überhaupt irgendetwas, das ich machte, von Bedeutung war.
    Robert zeigte wenig Verständnis für meine Selbstzweifel. Er schien seine künstlerischen Impulse nie infrage zu stellen, und sein Beispiel machte mir klar, dass es einzig und allein auf die Arbeit ankam: die aneinandergereihten Worte, die mit einemsanften Schubs von Gott zum Gedicht werden, das Geflecht von Farbe und Grafit, aufs Papier gekritzelt, das SEIN Tun verherrlicht. In der Arbeit die perfekte Balance zwischen festem Glauben und Ausführung zu finden. Aus diesem Seelenzustand kommt ein Licht, dessen Energiequelle das Leben selbst ist. Picasso verkroch sich nicht in ein Schneckenhaus, als das Baskenland bombardiert wurde. Er reagierte darauf, indem er mit Guernica ein Meisterwerk schuf, das uns an die Gräueltaten erinnert, die an seinem Volk begangen wurden. Wenn ich etwas Geld übrig hatte, ging ich ins Museum of Modern Art und setzte mich vor Guernica, stundenlang betrachtete ich das stürzende Pferd und das Glühbirnenauge, das die trostlose Hinterlassenschaft des Kriegs beleuchtet. Dann ging ich wieder an die Arbeit.
    Im selben Frühjahr wurde Martin Luther King im Lorraine Hotel in Memphis erschossen, nur wenige Tage vor Palmsonntag. In der Zeitung war ein Bild

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