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Just Kids

Titel: Just Kids Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patti Smith
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bis zur Decke und gingen auf die Twenty-third Street raus; wir konnten das YMCA und die Oberkante der Oasis-Reklame sehen. Es war genau das, was Robert brauchte: mindestens dreimal so groß wie unser Zimmer, mit viel Licht und einer Wand, aus der ungefähr hundert Nägel ragten. »Da können wir unsere Halsketten aufhängen«, sagte er.
    »Wir?«
    »Na klar«, meinte er. »Du kannst doch auch hier arbeiten. Es wird unser gemeinsames Atelier. Du kannst wieder anfangen zu zeichnen.«
    »Als Erstes zeichne ich Pigman«, sagte ich. »Er hat was gut bei uns. Und mach dir keine Sorgen um das Geld. Das treiben wir schon auf.«
    Wenig später erstand ich eine sechsundzwanzigbändige Henry-James-Werkausgabe quasi für ein Butterbrot. Sie war in einwandfreiem Zustand. Ich kannte einen Kunden von Scribner, der ein dankbarer Abnehmer dafür sein würde. Die Seidenpapierabdeckungen waren intakt, die Stiche sahen frisch aus, und es waren keine Stockflecken auf den Seiten. Ich bekam über hundert Dollar dafür. Ich steckte fünf Zwanzigdollarnoten in einen Strumpf, band eine Schleife drum und überreichte sie Robert. Als er reinschaute, sagte er: »Ich weiß wirklich nicht, wie du das immer hinkriegst.«
    Robert gab Pigman das Geld und begann sofort, den vorderen Teil des Lofts auszumisten. Das war Knochenarbeit. Wenn ich nach Feierabend kurz vorbeischaute, stand er knietief in Pigmans unfassbarem Müll: verstaubte Neonröhren, Rollen von Isolierband, Regale voll mit abgelaufenen Dosengerichten, halb volle Flaschen mit unidentifizierbaren Reinigungsmitteln, Staubsaugerbeutel, Stapel verbogener Jalousien, verschimmelte Kartons mit Jahrzehnte alten Steuerformularen und Bündel verdreckter National Geographics, verschnürt mit rot-weißer Kordel, die ich mitgehen ließ, um Armbänder daraus zu machen.
    Robert putzte und schrubbte und strich an. Wir borgten uns Eimer vom Hotel, füllten sie mit Wasser und schleppten sie rüber. Als wir fertig waren, standen wir stumm da und malten uns aus, was hier alles möglich war. Noch nie hatten wir so viel Tageslicht gehabt. Selbst nachdem Robert die Fenster geputzt und zur Hälfte schwarz angestrichen hatte, flutete das Licht nur so herein. Wir gingen auf Sperrmülljagd nach einer Matratze, Arbeitstischen und Stühlen. Ich wischte den Boden mit Wasser, das ich mit Eukalyptusöl auf unserer Kochplatte erhitzt hatte.
    Das Erste, was Robert aus dem Chelsea rüberschaffte, waren unsere Mappen.
    Im Max’s lief es jetzt besser. Ich urteilte nicht mehr so vorschnell und lebte mich ein. Irgendwie war ich akzeptiert worden, obwohl ich nie wirklich reinpasste. Weihnachten stand vor der Tür, und es machte sich eine melancholische Stimmung breit, so als sei jedem plötzlich bewusst geworden, dass er sonst nirgendwo hinkonnte.
    Selbst hier im Land der Drag Queens waren Wayne County, Holly Woodlawn, Candy Darling und Jackie Curtis eine Klasse für sich. Sie waren Perfomancekünstlerinnen, Schauspielerinnen und Comedians. Wayne war witzig, Candy war schön und Holly theatralisch, aber für mich hatte Jackie Curtis das meiste Potenzial. Sie konnte ein Gespräch komplett umbiegen, nur um einen von Bette Davis’ ätzenden Sprüchen anbringen zu können, und sie legte selbst in einem Hauskleid einen großen Auftritt hin. Mit ihrem aufwendigen Make-up sah sie aus wie ein Glitter-Starlet aus den Dreißigern. Es glitzerte auf ihren Augenlidern, in ihrem Haar, im Gesichtspuder. Ich hasste Glitzer, und wenn ich neben Jackie gesessen hatte, ging ich total glitzernd nach Hause.
    Kurz vor den Feiertagen war Jackie irgendwie nicht sie selbst. Ich bestellte ihr einen Snowball, eine heiß geliebte, aber fast unerschwingliche Köstlichkeit. Es war ein Berg von schweremSchokoladenkuchen, mit Vanilleeis gefüllt und mit Kokosraspeln bestreut. Sie aß es, während ihr große Glitzertränen ins schmelzende Eis tropften. Candy Darling rutschte auf den Platz neben ihr, tunkte einen lackierten Fingernagel in das Dessert, und tröstete sie mit ihrer besänftigenden Stimme.
    Es hatte etwas Ergreifendes, wie vollkommen Jackie und Candy in dieser imaginierten Schauspielerinnenexistenz aufgingen. Sie hatten beide etwas von Mildred Rogers, der ungeschlachten, ungebildeten Kellnerin aus Des Menschen Hörigkeit. Candy sah aus wie Kim Novak, und Jackie traf genau deren Mimik. Beide waren ihrer Zeit voraus, nur lebten sie nicht lange genug, um die Zeit, der sie voraus waren, noch mitzubekommen.
    »Pioniere ohne Grenze«, wie Andy Warhol

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