Just Listen - Roman
nie. Und ich war mir gar nicht sicher, ob ich das so gut fand. Sie dagegen wirkte selbst durchs Telefon so glücklich, wie ich sie seit Monaten nicht erlebt hatte.
»Es freut mich aber sehr, dass er dir gefällt. Und so eine starke Reaktion ausgelöst hat.« Kirsten lachte. »Jetzt muss es den Leuten am Samstag nur noch genauso gehen. Und alles ist prima.«
Schön für dich
, dachte ich, als wir ein paar Minuten später auflegten. Ich war nämlich immer noch ziemlich durcheinander. Und, wie ich gestehen muss, fasziniert. Jedenfalls fasziniert genug, um mir den Film noch zweimal anzusehen. Sogar jede Einstellung einzeln zu betrachten.
Mein Vater kam in die Küche; er war spät dran. Meine Mutter sprang auf, wuselte fürsorglich um ihn herum. Ich stellte meinen Teller in die Spüle, ließ etwas Wasser darüberlaufen. Durch das Fenster vor mir konnte ich Whitney sehen. Sie saß in einem Gartenstuhl am Pool, einen Kaffeebecher neben sich. Eigentlich hatte sie um die Zeit sonst immer noch geschlafen, aber seit Kurzem stand sie früher auf – nur eine der vielen Veränderungen in letzter Zeit.
Was Whitney betraf, waren diese Neuerungen zwar klein, aber dennoch unübersehbar. Zum Beispiel wirkte sie in letzter Zeit geselliger, war vor einigen Tagen sogar mit ein paar Leuten aus ihrer Therapiegruppe bei Moira Bell Kaffee trinken gegangen. Außerdem hatte sie sich darauf eingelassen, für ein paar Tage pro Woche vormittags im Büro unseres Vaters einzuspringen und Telefondienst zu machen, da wieder einmal eine Sekretärin schwanger war. Und wenn sie zu Hause war, verkroch sie sich nichtmehr ausschließlich in ihrem Zimmer, sondern hielt sich auch, zumindest zeitweise, in den übrigen Räumen auf. Das passierte schrittweise: Zuerst stand ihre Tür, die sonst immer fest verschlossen gewesen war, einen kleinen Spalt offen. Dann manchmal sogar ganz. Oder ich bemerkte, dass sie im Wohnzimmer abhing, anstatt, wie früher, sich sofort auf ihr Zimmer zurückzuziehen. Als ich am Vortag von der Schule nach Hause gekommen war, saß Whitney am Esszimmertisch, einen Haufen Bücher vor sich, und machte sich auf einem großen gelben Schreibblock eifrig Notizen.
Sie hatte mich über so lange Zeit ignoriert, ja, mit Verachtung gestraft, dass ich immer noch zögerte, bevor ich sie überhaupt ansprach. Aber das war in diesem Moment nicht einmal nötig, denn sie fing an zu reden.
»Hi.« Sie blickte nicht auf. »Mama ist weg, macht Besorgungen. Sie meinte, du sollst die Probe um halb fünf nicht vergessen.«
»Okay.« Whitneys Arm lag gekrümmt auf dem Block; der Stift machte ein schabendes Geräusch, während er übers Papier glitt. Ihre Kräutertöpfe am Fenster standen voll in der Sonne, aber gekeimt hatte bis jetzt noch nichts. »Was machst du da?«
»Ich soll eine Geschichte schreiben.«
»Eine Geschichte? Worüber?«
»Na ja, eigentlich sind es zwei Geschichten.« Sie legte den Stift beiseite, streckte die Finger durch. »Eine über mein Leben. Und eine über meine Essstörung.«
Es war schon sehr merkwürdig, sie das sagen zu hören. Und nach einer kleinen Schrecksekunde wurde mir auch klar, warum. Obwohl dieses Problem unser Familienleben seit fast einem Jahr beherrschte, hatte Whitney es bishernie offen zugegeben. Wie bei so vielem anderen wusste zwar jeder Bescheid, aber es wurde nicht darüber geredet. Das Problem existierte, wurde indes nicht offiziell benannt. Doch aus der Art,
wie
sie es ansprach – mit vollkommener Selbstverständlichkeit –, war zu schließen, dass es zumindest ihr vollkommen bewusst war.
»Das sind zwei verschiedene Geschichten?«, fragte ich.
»Offenbar. Jedenfalls findet Moira das.« Sie sprach den Namen ihrer Therapeutin, wie meistens, mit einem leichten Stöhnen aus, das allerdings eher müde denn genervt klang. »Dahinter steckt der Gedanke, dass es wohl so etwas wie eine Unterscheidung zwischen beidem gibt, auch wenn es oft nicht danach aussieht. Dass es ein Leben
vor
der Essstörung gab.«
Ich trat näher an den Tisch heran, warf einen Blick auf die Titel der Bücher neben ihr. »Hungern nach Aufmerksamkeit: Essstörungen und Erwachsenwerden« lautete einer, »Hungerschmerzen« ein weiterer, ziemlich schmaler Band. »Musst du die alle lesen?«
»Ich muss gar nichts.« Sie nahm den Stift wieder in die Hand. »Aber falls ich möchte, kann ich darauf zurückgreifen, um Fakten, die ich eventuell brauche, korrekt zu zitieren oder einzuarbeiten. Und die Geschichte über mein Leben
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