Just Listen - Roman
besteht sowieso ausschließlich aus meinen Erinnerungen. Wir sollen sie nach Jahren gliedern.« Sie deutete auf den gelben Block vor sich auf dem Tisch. Als Überschrift hatte sie da ELF (11) hingeschrieben. Sonst stand auf der Seite noch nichts.
»Muss ziemlich schräg sein, sich so zurückzuerinnern, Jahr um Jahr.«
»Es ist total schwer. Schwerer, als ich gedacht hätte.« Whitney öffnete mit dem Ellbogen ein Buch, blätterte eskurz durch, klappte es wieder zu. Jenseits der Fensterfront, auf der anderen Straßenseite, schimmerte grün und hell der Golfplatz.
»Du hast dir den Arm gebrochen«, sagte ich.
»Bitte?«
»Als du elf warst, hast du dir den Arm gebrochen. Du bist vom Rad gefallen, weißt du nicht mehr?«
Sie schwieg einen Moment. »Stimmt.« Sie nickte. »Ja Wahnsinn. War das nicht kurz nach deinem Geburtstag?«
»Es war
an
meinem Geburtstag. Du bist mit deinem Gips gerade rechtzeitig vom Krankenhaus zurückgekommen, um noch ein Stück Torte abzukriegen.«
»Wahnsinn«, wiederholte Whitney. »Dass ich das vergessen konnte.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf, blickte auf das Papier, zog die Kappe von ihrem Stift. Begann zu schreiben. Die erste Zeile … Ich wollte gerade von Kirstens Film erzählen und wie er mich daran erinnert hatte. Aber ich entschied mich dagegen, denn sie hatte bereits drei Zeilen geschrieben und hörte überhaupt nicht mehr auf. Wirkte total konzentriert. Ich wollte sie nicht unterbrechen. Deshalb zog ich mich zurück. Als ich eine Stunde später am Esszimmer vorbeiging, saß Whitney immer noch über ihren Block gebeugt. Dieses Mal blickte sie nicht einmal mehr auf, sondern schrieb einfach weiter.
Ich wandte den Blick von Whitney auf dem Gartenstuhl ab, drehte mich um, lehnte mich an die Spüle. Schaute zu meiner Mutter hinüber. Was sie wohl antworten würde, wenn ich sie nach meinem neunten Geburtstag und dem, was da geschehen war, fragte? Das war nur ein, zwei Monate vor dem Tod ihrer Mutter gewesen. Woran würde sie sich erinnern? An das übertrieben grüne Gras, wie Kirsten? Dass es genau vor meiner Party passierte, wie ich? Oder –wie Whitney – an gar nichts? Zumindest im ersten Moment. Es gab so viele Versionen schon allein dieser einen Erinnerung. Und doch war keine davon richtig oder falsch. Sondern alle wie Teile eines großen Puzzles. Erst wenn man sie zusammenfügte, Stück für Stück, würden sie einem die ganze Geschichte erzählen.
»Steig ein!«
Doch ich warf Owen bloß stumm einen Blick zu und zog fragend die Augenbrauen hoch. Wir befanden uns auf dem Parkplatz vorm
Kaufhaus Kopf
. Ich hatte glücklich eine Modenschauprobe hinter mich gebracht und steuerte gerade auf mein Auto zu, als jemand mit quietschenden Bremsen so schwungvoll auf den freien Platz neben meinem einbog, dass ich fast zu Tode erschrak. Ich rechnete fest damit, beim Aufblicken einen von diesen weißen Minibussen vor mir zu sehen, die in Filmen immer die Kidnapper fahren. Doch es war Owen in seinem Straßenkreuzer, der ungeduldig die Beifahrertür aufstieß, noch bevor er ganz zum Stehen gekommen war.
»Was wird das denn? Eine Entführung?«, erkundigte ich mich.
Er schüttelte den Kopf und signalisierte mir ungeduldig, ich möge endlich einsteigen, während er mit der anderen Hand die Anlage einstellte. »Ganz im Ernst, das hier
musst
du dir anhören«, meinte er, während ich mich langsam auf den Sitz gleiten ließ.
»Owen?«
Er drückte wie ein Besessener auf den Knöpfen der Anlage herum.
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
»Wusste ich nicht. Reiner Zufall. Ich war auf dem Heimweg,stand an der Ampel da drüben, da habe ich dich hier gesehen. Pass auf.«
Er drehte den Lautstärkeregler voll auf. Eine Minisekunde später vernahm ich ein rauschendes Geräusch, gefolgt von etwas, das wie eine Violine klang, aber sehr hektisch und elektronisch verstärkt. Ergebnis des Ganzen: ein Geräusch, das einen schon bei normaler Lautstärke nervös gemacht hätte. Doch so verzerrt und schrill, wie es jetzt aus den Lautsprechern drang, standen mir die Nackenhaare zu Berge.
»Super, was?« Owen grinste bis über beide Ohren und wippte mit dem Kopf, während die Akkorde über uns hinwegtosten. Vor meinem geistigen Auge sah ich eine dieser Maschinen, mit denen man die Herzfrequenz kontrolliert. In dem Fall die Frequenz meines Herzens. Bei jedem Ton presste es sich zusammen und die Anzeigennadel flimmerte und zuckte bereits weit jenseits des sichtbaren
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