Just Listen - Roman
durch den Kopf. Gras, das plötzlich gar nicht mehr so makellos wirkte.
Wie immer war ich in diesen letzten paar Minuten vor einem Auftritt auf dem Laufsteg am nervösesten. Vor mir in der Reihe stand Julia Reinhart und zupfte am Saum ihres Shirts herum. Hinter mir hörte ich, wie sich eins der jüngeren Models darüber beschwerte, ihre Schuhe seien zu eng. Emily sprach kein Wort, hielt ihre Augen unverwandt auf den Spalt im Vorhang gerichtet.
Die Musik setzte ein, laut und poppig, eben das typische Zeug, das in den Chartsendern rauf und runter gedudelt wurde. Mrs McMurty hastete um die Ecke; sie hielt ein Klemmbrett in der Hand und wirkte erschöpft. »Eine Minute noch«, sagte sie zu dem ersten Mädchen in der Reihe, eine der Erfahrensten von uns. Sie warf ihr Haar zurück und reckte ihre Schultern.
Ich streckte meine Fingerspitzen durch, holte tief Luft. Jetzt, wo wir uns draußen in der Mall selbst befanden, wirkte alles heller und geräumiger. Ich musste das hier jetzt bloß noch durchstehen, dann konnte ich verschwinden, Owen treffen und mich auf den Weg zu dem Menschen machen, der ich sein wollte. Nicht zu dem, der ich gewesen war.
Die Musik hörte kurz auf, setzte wieder ein. Es ging los.Mrs McMurty eilte die Stufen hinauf, um sich neben den Vorhang zu stellen, zog ihn zur Seite und gab dem ersten Mädchen ein Zeichen loszumarschieren. An ihr vorbei erhaschte ich einen Blick auf das Publikum – jede Menge Leute, die rechts und links des Laufstegs saßen, sowie weitere, die dahinter standen.
Als Emily an der Reihe war, ging sie mit erhobenem Kopf hinaus und hielt ihren Rücken so gerade durchgedrückt, als hätte sie einen Stock verschluckt. Ich blickte ihr nach und wünschte mir plötzlich, ich könnte einfach wie einer von den Leuten da draußen sein und nichts weiter in ihr sehen als ein schönes Mädchen in schönen Kleidern. Nicht mehr, nicht weniger. Das nächste Model trat auf, gefolgt von Julia. Zu dem Zeitpunkt kam Emily gerade zurück, ging auf der anderen Seite der Bühne hinunter zur Garderobe. Dann war ich an der Reihe.
Als sich der Vorhang öffnete, sah ich zuerst nur den Laufsteg, der sich vor mir erstreckte, und lauter verschwommene Gesichter rechts und links davon. Die Musik dröhnte in meinen Ohren, ich lief los und versuchte, stur nach vorne zu schauen. Trotzdem erhaschte ich hier und da einen zufälligen Blick in die Menge. Meine Eltern saßen links; meine Mutter strahlte mich an, mein Vater hatte den Arm um sie gelegt. Auf der anderen Seite, ein paar Reihen weiter hinten, hockte Mallory Armstrong zusammen mit den rothaarigen Zwillingen von ihrer Party. In den Sekundenbruchteilen, in denen sich unsere Blicke trafen, winkte sie mir aufgeregt zu und hüpfte auf ihrem Stuhl herum. Ich ging weiter den Laufsteg entlang. Als ich ganz am Ende angelangt war, entdeckte ich Whitney.
Sie lehnte an dem Riesentopf einer Riesenpflanze vor dem Reformhaus, gut fünfzehn Meter hinter der Menge,die sich die Modenschau ansah. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass sie kommen würde. Aber was mich noch mehr überraschte, war ihr Gesichtsausdruck. So traurig, dass mir fast die Luft weggeblieben wäre. Als unsere Blicke sich trafen, machte sie einen Schritt vorwärts und schob die Hände in ihre Taschen. Ich sah sie einen Moment lang an, spürte einen heftigen Stich in meiner Brust. Doch dann musste ich mich umdrehen und zurückgehen.
Ich spürte den Kloß in meinem Hals, während ich mich zwang weiterzugehen, Richtung Vorhang. Ich hatte zu viel durchgemacht. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was mit Emily passierte oder passiert war. Oder mir. Sondern nur mit Owen auf der Mauer sitzen, über Musik reden und das Mädchen sein, das er in mir sah. Das anders war, und zwar gut anders. Auf viele unterschiedliche Weisen gut anders.
Ich hatte die Hälfte des Laufstegs hinter mir, den Vorhang in rettender Reichweite vor mir. Noch vier Umzüge, vier Auftritte, das große Finale – und ich hätte das hier endlich hinter mir. Es war nicht meine Aufgabe, jemandem – wie auch immer – aus der Patsche zu helfen. Besonders nicht, weil ich ja selbst nicht fähig gewesen war, mir zu helfen.
»Annabel!«, rief eine Stimme zu meiner Linken. Ich wandte unwillkürlich den Kopf. Mallory strahlte mich an, hob ihre Kamera, betätigte den Auslöser. Die Rothaarigen winkten mir zu. Jeder sah mich. Sah mich an. Aber als der Blitz aufflammte, konnte ich an nichts denken als an den Abend, an dem ich mit Owen in
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