Just Listen - Roman
Mallorys Zimmer stand. Den Abend, an dem ich die unzähligen Gesichter an der Wand betrachtet und mein eigenes nicht einmal erkannt hatte.
Ich drehte den Kopf zurück nach vorne, lief weiter geradeaus, als Emily hinter dem Vorhang hervortrat. Und glaubte auf einmal Kirstens Stimme zu hören, wie sie mir erzählte, warum sie Angst davor hatte, ihren Film zu zeigen:
Das ist etwas sehr Persönliches
, hatte sie gesagt.
Authentisch, real.
Das war dieser Moment genauso, auch wenn man es auf den ersten Blick nicht merkte. Denn nach außen schien alles Fassade. War aber innerlich trotzdem wahrhaftig. Man musste nur hinsehen, genau hinsehen, um das zu erkennen.
Das Merkwürdigste: Emily hatte mir den ganzen Herbst über – wann immer wir uns in der Schule, bei Proben oder sonst wo begegneten – nicht in die Augen geschaut. Fast so, als
wollte
sie mich nicht sehen. Doch als wir nun aufeinander zuliefen, nahm ich wahr, wie sie mich anstarrte. Mich dazu bringen wollte, den Kopf zu wenden, den Blick auf sie zu richten. Ich kämpfte, so gut ich konnte, dagegen an. Doch in dem Moment, da sie unmittelbar an mir vorbeiging, gab ich auf.
Sie wusste es. Ich sah es in ihren Augen. Ein Blick genügte, ein Augenaufschlag, ein einziger Moment,
einmal
Hinsehen. Trotz der dicken Make-up-Schicht waren die dunklen Ränder unter ihren Augen deutlich sichtbar. Sie machten einen verängstigten, einen traurigen Eindruck. Doch vor allem war mir der Ausdruck dieser Augen
vertraut
. Völlig egal, dass wir uns gerade inmitten Hunderter fremder Menschen befanden. Ich hatte mich einen Sommer lang mit denselben – verängstigten, verlorenen, verwirrten – Augen dahingeschleppt. Und solche Augen blickten mich jetzt an. Diesen Ausdruck, diesen Schmerz hätte ich überall wiedererkannt.
Kapitel 13
»Sophie!«
30. Juni, Tag der alljährlichen Party am letzten Schultag, zu Beginn der letzten Sommerferien. Ich kam zu spät. Emilys Stimme, die nach Sophie rief, war das Erste, das ich hörte, als ich durch die Tür trat.
Zu dem Zeitpunkt konnte ich sie noch nicht sehen – der Eingangsflur war gestopft voll, auch auf den Treppenstufen drängten sich die Leute –, doch im nächsten Moment bog sie um die Ecke, in jeder Hand einen Plastikbecher mit Bier. Als Emily mich entdeckte, lächelte sie und meinte: »Da bist du ja. Wo hast du so lang gesteckt?«
Unwillkürlich stand mir das Gesicht meiner Mutter wieder vor Augen; wie erschrocken, ja entsetzt sie vor einer Stunde dreingeblickt hatte, als Whitney ihren Stuhl zurückstieß, wobei er so gegen den Tisch knallte, dass unsere Teller in die Luft sprangen. Dieses Mal war es um Hähnchen gegangen, besser gesagt: um die halbe Hähnchenbrust, die mein Vater auf Whitneys Teller platziert hatte. Nachdem sie das Fleisch erst in Viertel, dann in Achtel und schließlich in fast verschwindend kleine Sechzehntel zerteilt hatte, schob sie die Stücke allesamt zur Seite und begann, ihren Salat zu essen. Kaute dabei allerdings so lang auf jedem Salatblatt herum, dass es einem wie eine Ewigkeitvorkam. Meine Eltern und ich taten, als würden wir es gar nicht sehen, sogar so, als wäre es im Grunde nichts weiter Bemerkenswertes, und hielten zwischen uns dreien irgendwie eine Konversation über das Wetter im Gange. Doch als Whitney einige Minuten später ihre Serviette auf den Teller legte, konnte ich nicht anders, als wie gebannt zuzuschauen, wie der Stoff sich senkte und das Hähnchen mit einem Zaubertuch bedeckte, unter dem Whitney es verschwinden lassen wollte. Doch sie hatte kein Glück. Mein Vater sagte ihr, sie möge bitte aufessen, worauf sie explodierte.
Eigentlich hätten wir an ihr hyperdramatisches Getue beim Abendessen längst gewöhnt sein sollen. Whitney war mittlerweile seit sieben Monaten aus dem Krankenhaus raus und seitdem hatte sich diese Form von Verhalten schon fast zu einer Art Routine entwickelt. Aber es gab immer noch Momente, in denen Lautstärke, Ausmaß und Plötzlichkeit ihrer Ausbrüche uns kalt erwischten. Insbesondere meine Mutter, die ohnehin jedes etwas betonter geäußerte Wort, jedes lautere Geräusch oder gar Knallen, ja sogar ihre unzähligen sarkastischen Stöhner und Seufzer als persönlichen Angriff auffasste. Darum hatte ich nach dem Abendessen noch eine Weile in der Küche herumgetrödelt und meiner Mutter zugesehen, die das Geschirr abwusch. Forschend betrachtete ich ihr Gesicht, das sich im Fenster über der Spüle spiegelte. Behielt sie einfach
Weitere Kostenlose Bücher