Just Listen - Roman
nickte, löste sich vom Waschbecken, ging Richtung Tür. Ich folgte ihr hinaus, auf den Gang vor den Toiletten. Wir wollten gerade jede unseres Weges gehen, da holte sie einen Kugelschreiber sowie ein Stück Papier aus der Tasche, kritzelte etwas darauf, reichte es mir. »Meine Handynummer. Nur für den Fall, dass du es dir anders überlegst.«
Unter der Nummer stand in der mir nach wie vor vertrauten Handschrift ihr Name – adrette, ordentliche Blockbuchstaben, ein kleines, schwungvolles Häkchen beim letzten E. »Danke«, sagte ich.
»Kein Problem. Fröhliche Weihnachten, Annabel.«
»Dir auch.«
Sie ging davon, ich – in die Gegenrichtung – ebenfalls. Mir war klar, dass ich sie wahrscheinlich nicht anrufen würde. Dennoch öffnete ich den Reißverschluss meiner Tasche und stopfte Clarkes Zettel zu der Visitenkarte, die Emily mir gegeben hatte. Auch wenn ich vermutlich keine der beiden Nummern je wählen würde, war es aus irgendeinem Grund angenehm zu wissen, dass sie dort in meiner Tasche steckten.
Wieder ein Feiertag, wieder eine Fahrt zum Flughafen. Wie bereits ungefähr vor einem Jahr saß ich auf dem Rücksitz hinter meinen Eltern und wir fuhren die Autobahn entlang. Ein Flugzeug stieg in dem Moment auf, als wir in die Ausfahrt zum Flughafen einbogen, wodurch für uns der Eindruck entstand, als flöge es einmal quer über die Windschutzscheibe. Whitney war zu Hause geblieben, angeblich, um das Abendessen vorzubereiten. Deshalb warteten nur wir drei hinter der Absperrung darauf, dass Kirsten rauskam.
»Da ist sie!«, rief meine Mutter und winkte begeistert, als meine Schwester erschien. Sie trug einen hellroten Mantel und hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Kirsten winkte lächelnd zurück, während sie auf uns zulief; die Rollen unter ihrem Koffer surrten über den Boden.
»Hallo!« Als Erstes umarmte sie meinen Vater, dann kam meine Mutter an die Reihe, die natürlich gleich wieder Tränen in den Augen hatte, wie immer bei einer Ankunft oder einem Abschied. Schließlich umarmte Kirsten auch mich, fest, lang. Ich schloss die Augen, sog ihren Duft ein: Seife, kalte Luft, ihr Pfefferminzshampoo – allesunendlich vertraut. »Ich freue mich tierisch, euch zu sehen!«
»Wie war die Reise?«, fragte meine Mutter. Mein Vater schnappte sich Kirstens Koffer. Wir marschierten durch das Terminal. »Irgendwelche Unannehmlichkeiten?«
»Nicht im Geringsten.« Kirsten hakte sich bei mir ein. »Alles super.«
Ich wartete darauf, dass sie weitersprach, aber sie sagte nichts mehr. Lächelte mich nur an, ließ ihre Hand an meinem Arm nach unten gleiten, fasste meine Hand und drückte sie. Wir traten in die Kälte hinaus.
Auf der Heimfahrt löcherten meine Eltern Kirsten mit Fragen über die Uni, die sie beantwortete, und über Brian, denen sie stillvergnügt auswich, wobei sie zwischendurch immer mal wieder rot wurde. Die neue Kirsten, die ich ja schon am Telefon kennengelernt hatte, war deutlich präsent. In dem Sinne wortkarg war sie zwar nicht, dennoch fielen ihre Antworten viel kürzer aus, als wir es gewohnt waren. So kurz, dass verwirrende Pausen entstanden, nachdem sie etwas gesagt hatte und der Rest von uns darauf wartete, dass sie fortfuhr. Doch das tat sie nicht. Stattdessen atmete sie manchmal tief durch, schaute aus dem Fenster oder drückte meine Hand, die sie immer noch festhielt. Auf der gesamten Fahrt nach Hause blieb ihre Hand, wo sie war.
»Ich muss schon sagen«, bemerkte meine Mutter schließlich, als mein Vater in die Abfahrt zu unserem Viertel einbog. »Du hast dich irgendwie verändert, mein Schatz.«
»Wirklich?«, fragte Kirsten.
»Ich kann nicht genau sagen, was es ist.« Meine Mutter machte ein nachdenkliches Gesicht. »Aber ich glaube, es liegt daran …«
»... dass sie den Rest der Welt auch mal zu Wort kommen lässt?«, vervollständigte mein Vater den Satz und warf Kirsten einen kurzen Blick im Rückspiegel zu. Er lächelte. Und er hatte recht.
»Echt, Papa?«, meinte Kirsten. »Habe ich tatsächlich sooo viel gequasselt?«
»Natürlich nicht!«, entgegnete meine Mutter. »Wir hören immer gern, was du uns zu sagen hast.«
Kirsten seufzte. »Ich habe in letzter Zeit gelernt, mich kürzer zu fassen, präziser zu sein, zuzuhören, wenn mir etwas erzählt wird. Ich meine, ist euch eigentlich klar, wie schlecht die Leute heutzutage überhaupt noch zuhören können?«
Mir war das absolut klar. Ich hatte nämlich die Zeit zwischen
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