Just Listen - Roman
ich die Augen wieder öffnete, sah ich, dass sie mich anlächelte. »Du siehst wunderschön aus.«
»Ja, schon gut«, brummte ich mehr, als dass ich es sagte. Doch dann nahm ich ihren Blick wahr und schickte hastig ein »Dankeschön« hinterher.
Sie tippte auf ihre Armbanduhr. »Jetzt lauf. Wir warten hier auf dich.«
»Müsst ihr nicht. Ich schaffe das schon.«
Gleichzeitig heulte der Motor des Wagens auf. Whitney hatte ihn angelassen, kurbelte das Fenster runter, ließ ihren Arm rausbaumeln. Sie trug ein Oberteil mit langen Ärmeln, wie immer. Aber ihr Handgelenk konnte man trotzdem deutlich erkennen, bleich und schmal. Sie trommeltemit den Fingern aufs Autoblech. Meine Mutter blickte zu ihr. Dann wieder zu mir.
»Nun, zumindest warte ich noch, bis du drinnen bist«, meinte sie schließlich. »Einverstanden?«
Ich nickte, beugte mich vor und gab ihr einen vorsichtigen Kuss auf die Wange, damit weder mein Lippenstift noch ich sie verschmierten. »Einverstanden.«
Als ich das Gebäude erreichte, wandte ich mich noch einmal um. Meine Mutter hob die Hand, um mir zuzuwinken. Während ich zurückwinkte, fiel mein Blick auf Whitney, deren Gesicht vom Seitenspiegel des Wagens eingefangen wurde. Auch sie beobachtete mich, mit regungslosem Gesichtsausdruck. Und wie so oft in letzter Zeit verspürte ich dabei ein Stechen in der Magengrube.
»Viel Glück!«, rief meine Mutter. Ich nickte ihr zu, bevor ich erneut zu Whitney hinübersah. Doch sie war auf ihrem Sitz zusammengesunken, meinem Blick entschwunden. Und im Seitenspiegel – nichts mehr.
Kapitel 3
Whitney war immer dünn gewesen. Kirsten hatte eine sinnliche, kurvenreiche Figur, ich war eher drahtig und athletisch veranlagt. Doch unsere mittlere Schwester war mit dem typischen Körper eines Models auf die Welt gekommen: hochgewachsen, gertenschlank. Kirsten und mir wurde von den Fotografen zwar immer erzählt, wir hätten hübsche Gesichter; doch um ernsthaft Anzeigenwerbung zu machen oder auf dem Laufsteg zu reüssieren, seien wir definitiv zu »solide gebaut« beziehungsweise zu klein. Bei Whitney hingegen zeigte sich sehr früh sehr deutlich, dass sie rein von ihrer Veranlagung tatsächlich großes Potenzial hatte.
Deswegen lag es nahe, dass sie in dem Sommer nach ihrem Highschool-Abschluss gen New York zog, um ihr Glück als Model zu versuchen. So wie Kirsten zwei Jahre zuvor. Nachdem sie meine Eltern erfolgreich bekniet hatte, mit zwei Mädchen zusammenziehen zu dürfen, die sie aus unserer Model-Agentur kannte, trafen die drei die Abmachung, dass Kirsten sich außerdem am College einschreiben und wenigstens an einigen Veranstaltungen teilnehmen sollte. Anfangs hielt Kirsten sich auch an die Verabredung. Doch nachdem sie die ersten Anzeigen und Werbespots gelandet hatte, wurde das Studieren wundersamerweise immerunwichtiger. Wobei sie den Großteil ihres Geldes letztlich durch Kellnern und als Hostess auf Messen et cetera verdiente – obwohl sie offiziell als Model arbeitete.
Nicht, dass sie das sonderlich gestört hätte. Seit Kirsten auf der Highschool Jungs und Bier für sich entdeckt hatte – übrigens nicht unbedingt in der Reihenfolge –, war ihr Interesse am Modeln merklich geschrumpft. Während Whitney peinlich genau darauf achtete, vor einem Job genug Schlaf zu bekommen und pünktlich zu erscheinen, schlug Kirsten gern schon mal zu spät beziehungsweise völlig verpennt auf, gewaltiger Kater inklusive. Als im
Kaufhaus Kopf
einmal Ballkleider für eine Werbekampagne fotografiert wurden, erschien Kirsten mit einem sooo dicken Knutschfleck, dass er selbst durch eine dicke Schicht Make-up nicht vollständig abzudecken war. Und als die Anzeigen einige Wochen später geschaltet wurden, zeigte sie mir amüsiert den nahezu unsichtbaren, aber dennoch dunkel durchscheinenden Schatten unter dem Träger ihres Kleides, das einer Prinzessin zur Ehre gereicht hätte.
In Whitney nun setzte meine Mutter daher ihre ganze Hoffnung. Zwei Wochen nach ihrem letzten Schultag packten die beiden Whitneys Kram zusammen und fuhren nach New York. Kirsten lebte inzwischen allein in dem Appartement; also zog Whitney mit ein. Ich betrachtete diese Quasi-Zwangs-WG von Anfang an skeptisch. Meine Eltern hingegen hatten in dem Punkt ihre eigenen Ansichten, von denen sie sich partout nicht abbringen ließen. Schließlich war Whitney erst achtzehn, daher sollte jemand aus der Familie weiter ein Auge auf sie haben. Und da meine Eltern nach wie vor einen Teil zu
Weitere Kostenlose Bücher