Just Listen - Roman
Bildes.
Das Foto war vor drei Jahren bei einem unserer ausgedehnten Urlaube am Meer entstanden. Der Freund eines Freundes meines Vaters hatte es gemacht. Als er uns damals vorschlug, für ihn Modell zu stehen, schien es aus einer spontanen Laune heraus zu sein. In Wahrheit hatte mein Vater die Aktion wochenlang im Voraus bis ins Kleinste geplant, als Weihnachtsgeschenk für meine Mutter. Ich weiß noch genau, wie wir dem Fotografen – ein hochgewachsener, dynamischer Mann, dessen Namen ich vergessen habe – über den Strand bis zur Mole folgten. Kirsten sprang zuerst hinauf, streckte dann ihre Hand aus, um meiner Mutter zu helfen, Whitney und ich kletterten hinter ihnen her. Auf den Felsbrocken (die Mole war eher eine Art Wellenbrecher) die Balance zu halten, war nicht ganz einfach; ich sehe noch vor mir, wie Kirsten meiner Mutter über die schroffen Kanten half, bis wir zu einer ebenen Fläche kamen, auf der wir nebeneinander Platz hatten.
Auf dem Foto hat jede von uns irgendwie mit jeder Körperkontakt: Meine Mutter hält Kirstens Hand, Whitney wiederum hat den Arm um ihre Schultern gelegt und ichbin meiner Mutter, obwohl ich vor ihr stehe, ebenfalls halb zugewandt, habe den Arm um ihre Taille geschlungen. Sie lächelt, genau wie Kirsten. Whitney blickt einfach nur geradeaus in die Kamera; es haut einen um, wie schön sie ist – wie immer. Und ich erinnere mich zwar daran, dass ich jedes Mal bewusst lächelte, wenn der Blitz aufleuchtete. Doch auf dem endgültigen Foto kann ich meinen Gesichtsausdruck nicht recht deuten. Er liegt irgendwo zwischen Kirstens strahlendem Lächeln und Whitneys ungemein attraktiver Getriebenheit.
Auf jeden Fall war das Foto wunderschön, die Komposition perfekt. Wer auch immer es betrachtete, gab garantiert einen Kommentar dazu ab. Zudem war es das Erste, worauf der Blick fiel, wenn man unser Haus betrat. Doch irgendwie war mir das Bild seit einigen Monaten fast unheimlich geworden. Als ob ich darin nicht nur die feinen Abstufungen in den Schwarz-Weiß-Kontrasten erkennen konnte, oder wie sich unsere jeweiligen Charaktereigenschaften – einerseits auf ganz unterschiedliche Art und Weise, doch dann auch wieder sehr ähnlich – in unseren Gesichtszügen widerspiegelten. Was mir beinahe Angst einflößte, war, dass ich mittlerweile noch ganz andere Dinge wahrnahm, wenn ich das Foto betrachtete. Zum Beispiel, dass Kirsten und Whitney so dicht nebeneinanderstanden, dass kein Blatt zwischen sie gepasst hätte; mir mein eigenes Gesicht viel entspannter schien als jetzt; und wie zierlich meine Mutter zwischen uns wirkte, während wir sie nahe an uns heranzogen, sie mit unseren Körpern förmlich abschirmten. Als wäre sie uns davongeflogen, wenn wir sie nicht festgehalten hätten.
Ich biss gerade in meinen Apfel, als der Wagen meiner Mutter in die Garage fuhr. Sekunden später hörte ich Türenschlagen, Stimmen … Whitney und sie kamen ins Haus.
»Hallo«, sagte meine Mutter, als sie mich sah, und stellte ihre Einkaufstasche mit Schwung auf die Küchentheke. »Wie war’s in der Schule?«
»Wie immer«, antwortete ich und wich leicht zurück, weil Whitney dicht an mir vorbeifegte, mich fast anrempelte, ohne mich weiter zu beachten, und schnell nach oben verschwand. Es war Mittwoch, was hieß, sie kam gerade von ihrem Seelenklempner, wodurch sie unweigerlich noch mieser drauf kam als sonst. Bis dahin hatte ich immer gedacht, wenn man zum Therapeuten geht, fühlt man sich irgendwann besser. Nicht schlechter. Aber offensichtlich war die Sache wohl etwas komplizierter. Jedenfalls für Whitney.
»Lindy hat dir eine Nachricht hinterlassen.«
»Was sagt sie?«
»Die Leute von
Mooshka
haben sich noch nicht gemeldet.«
Meine Mutter wirkte enttäuscht, jedoch nur kurz. »Na ja, sie werden sich schon noch rühren, da bin ich mir sicher.« Sie trat vor die Spüle, drehte den Hahn auf und wusch sich gründlich die Hände, wobei sie jede Menge Flüssigseife benutzte und durchs Fenster zum Pool hinausblickte. Im Nachmittagslicht sah sie ziemlich erschöpft aus; die Mittwochnachmittage verlangten auch ihr einiges an Kraft ab.
»Außerdem hat Kirsten angerufen und eine ellenlange Nachricht hinterlassen.«
Meine Mutter lächelte. »Was du nicht sagst.«
»Um es kurz zu fassen: Sie geht gern in ihre Vorlesungen und Seminare.«
»Schön zu hören.« Meine Mutter trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Faltete es wieder zusammen, legte es neben die Spüle, setzte
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