Justice (German Edition)
Wettbewerb.«
Milan nickte. Wer das Drachenboottraining leiten würde, war zurzeit das geringste Problem. Er ging in Steins Zimmer zurück, wo seine Klamotten mittlerweile halbwegs getrocknet waren. Dann zog er sich um und ging auf die Straße, um eine Zeitung zu kaufen.
»Herr Stein ist heute leider krank«, eröffnete Frau Hachtel, die Leiterin der deutschen Schule, der Abiklasse, doch kaum ein Schüler konnte das glauben. Stein meldete sich doch nie krank. Selbst wenn er stark erkältet war, stand er auf der Matte. Seit Jahren hatte er keinen einzigen Tag gefehlt. Die wenigen Anlässe, an denen er nicht in die Schule gekommen war, waren höchstens die Reisetage zu Drachenbootwettbewerben an die Westküste. Und an solchen Tagen war sowieso die Hälfte der Klasse bei ihm.
Milan hatte sich auch kurz überlegt, ob er sich krankmelden sollte, aber er entschied sich dagegen. Das hätte nur für noch mehr Aufsehen gesorgt und es reichte schon, dass Stein nicht da war. Frau Hachtel gab der Klasse die Anweisungen für die Ersatzarbeit und verließ selbst etwas durcheinander den Raum.
Sobald sie die Tür hinter sich zugemacht hatte, entflammte eine heiße Diskussion über Steins Abwesenheit.
»Weißt du, wo er ist?«, wandte sich Alexander an Milan.
»Woher soll ich das wissen?«, reagierte er gereizt. »Du hast doch Frau Hachtel gehört. Er ist krank.«
Natalie grinste. »Er hat bestimmt eine Frau kennengelernt und ist bei einem romantischen Wochenende irgendwo an der Küste hängen geblieben.«
»Oder er ist umgelegt worden«, sagte Sarah ernst. »Ich wette, Stein hat viele Feinde.«
»Quatsch!«, verneinte Milan. »Spinnt ihr? Er liegt bestimmt zu Hause mit Fieber oder so was.«
»Das glaubst auch nur du«, meinte Alexander und beendete damit das spekulative Gespräch.
Beim Drachenboottraining am Hafen übernahm Milan die Leitung. Er gab die Anweisungen und sorgte für Disziplin. Es war ein seltsames Gefühl, ohne Herrn Stein mit dem Drachenboot zu trainieren. Das Team war rastlos und unsicher. Als sie aus dem Hafen ruderten und das offene Meer erreichten, hatten die Kleineren im Team sogar Angst. Niemand verfügte über eine so klare Stimme wie Herr Stein. Niemand besaß seine Autorität. Beim Training paddelte die Mannschaft ohne Kraft und mit mangelnder Koordination, als ob sie darunter litt, dass ein treibender Teil ihres Mechanismus’ fehlte. So würde aus dem Team beim großen Wettbewerb in Durban kein Sieg herauszuholen sein. Die Mannschaft konnte nur hoffen, dass ihr Trainer in absehbarer Zeit wieder zur Verfügung stand.
»Morgen ist er wieder dabei!«, redeten sich die Kleineren voller Zuversicht ein.
»Er kommt spätestens bis Ende der Woche wieder«, sagten die Älteren optimistisch.
Milan schwieg. Genau genommen hatte er ja auch keine Ahnung, wie es nun weitergehen würde. Direkt im Anschluss fuhr er samt Schultasche und nassen Sportklamotten nach Athlone. Zu seinem Entsetzen fand er Stein in einem sehr schlechten Zustand vor. Er lag zusammengekrümmt auf dem Sofa, sein Gesicht farblos und heiß, seine Haare schweißnass. Er hatte heftiges Fieber bekommen, murmelte wirres Zeug und wälzte sich unruhig hin und her. Milan wusste nicht, was er tun sollte. Stein brauchte dringend einen Arzt. Die Wunde war vielleicht infiziert. Egal, was die Ursache war, Milan war nicht mehr in der Lage, Stein zu helfen. Er wandte sich an den einzigen Menschen, der ihm jetzt in den Sinn kam: Dorothy.
Es dauerte nicht lang, bis Milan das kleine Notizbuch in einer der Schreibtischschubladen fand. Es beinhaltete zahlreiche Telefonnummern, manche mit kryptischen Bezeichnungen, die die wahre Identität des Empfängers tarnten. Doch der Name und die Telefonnummer von Dorothy Crowe waren nicht verschlüsselt. An der Vorwahl konnte Milan erkennen, dass sie außerhalb von Kapstadt lebte, vermutlich in einem Ort nicht weit von Fish Hoek, wo sich die beiden getroffen hatten. Während sich Herr Stein hinter ihm weiter auf dem Sofa quälte, rief er die ehemalige Krankenschwester an.
Die Frau meldete sich mit einer sanften warmen Stimme: »Hallo, wer ist da?«
»Hallo, Frau Crowe. Mein Name ist Milan. Ich rufe aus dem Haus von Kurt Stein an.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann kam die Frage, mit der Milan bereits gerechnet hatte, leise, atemlos und voller Misstrauen: »Ich kenne Sie nicht. Wer sind Sie?«
»Ich bin ein Schüler von Herrn Stein. Ich war dabei, als er ...« Milan
Weitere Kostenlose Bücher