Justin Mallory 01 - Jäger des verlorenen Einhorns
sagte Mallory, »aber doch ziemlich sicher.«
»Hmm«, machte der Mann nachdenklich. »Ich scheine weiter vom Weg abgekommen, als ich dachte.«
»Wohin möchten Sie?«, fragte Mallory.
»Nach Rom natürlich.«
»Natürlich«, bestätigte Mallory trocken.
»Aber wo sind nur meine Manieren geblieben?«, fragte der Mann. Er streckte die Hand aus, ohne stehen zu bleiben. »Ich heiße Ian Wilton-Smythe.«
»Brite?«, fragte Mallory und schüttelte ihm die Hand.
Wilton-Smythe nickte. »Bis ins Mark. Tötet die Iren! Plündert die Kolonien aus! Gott schütze die Königin!« Er unterbrach sich. »Wir haben doch noch die Königin, oder? Oder haben wir inzwischen einen König?«
»Es ist noch immer die Königin«, antwortete Mallory. »Sehe ich es richtig, dass Sie länger nicht zu Hause waren?«
»Nicht mehr seit dem Frühjahr 1960«, bestätigte Wilton-Smythe. »Bin damals zur Sommerolympiade noch Rom abgereist.«
»Als Zuschauer?«
»Als Marathonläufer. Tatsächlich laufe ich noch immer mit. Ich scheine irgendwo unterwegs falsch abgebogen zu sein.«
»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen klarmachen soll«, sagte Mallory, »aber wir hatten seither schon etliche Olympiaden mehr. Der Wettlauf ist vorbei.«
»Nicht bis ich die Ziellinie überquert habe«, erwiderte Wilton-Smythe hartnäckig.
»Warum hören Sie nicht einfach auf?«
»Das wäre unfair«, entgegnete Wilton-Smythe. »Die Regeln des Sports, wissen Sie?«
»Die Regeln verlangen nicht, dass man noch Jahrzehnte lang weiterlaufen muss, nachdem alle anderen schon durchs Ziel sind«, wandte Mallory ein.
»Langsam und beständig, so gelangt man ans Ziel«, zitierte Wilton-Smythe.
»Nicht in diesem Rennen«, erwiderte Mallory. »Es wurde schon gewonnen.«
»Das ist wohl kaum meine Schuld, oder?«, feuerte Wilton-Smythe zurück. »Meine Aufgabe ist es, weiterzumachen und mein Bestes zu geben.« Er zögerte. »Sie sehen hier auch keine Fotografen, oder?«
»Nein.«
»Schade.«
»Wieso?«, fragte Mallory. »Hatten Sie mit welchen gerechnet?«
»Nun, ich bin schließlich die bedeutendste Nachricht in der Welt des Sports«, sagte Wilton-Smythe. »Mit jedem Schritt steigere ich meinen Rekord.«
»Welchen Rekord? Sie haben verloren.«
»Den Rekord für die längste Zeit, um bei einem olympischen Marathonlauf das Ziel zu erreichen«, erklärte Wilton-Smythe. Er schien verwirrt. »Ich erwarte jederzeit, dass mich die Guinness-Leute für ihr Buch der Rekorde befragen oder meine Schritte zählen oder sonst etwas, aber bislang sind sie nicht aufgetaucht. Ich frage mich, wieso nicht?«
»Vielleicht wissen sie gar nicht, dass Sie nach wie vor laufen«, gab Mallory zu bedenken.
»Unmöglich!«, erwiderte Wilton-Smythe verächtlich. »Wahrscheinlich warten sie in fünfzehn oder zwanzig Kilometern auf mich.«
»Vielleicht«, räumte Mallory ohne viel Überzeugung ein.
Wilton-Smythe gähnte. »Ich werde schläfrig. Ich denke, ich mache lieber ein Nickerchen, ehe ich sie erreiche. Ich möchte schließlich für die Interviews und die Fotos nichts weniger als perfekt aussehen.«
»Ich denke nicht, dass Sie eine große Chance haben, ein Zimmer zu finden«, gab Mallory zu bedenken. »Wir haben Silvester.«
»Wozu sollte ich ein Zimmer brauchen?«
»Ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie wären müde.«
»Ich schlafe auf den Geraden und wache für die Kurven auf«, erklärte Wilton-Smythe. »Ich möchte nicht, dass man mir vorwerfen kann, ich hätte geschummelt.«
»Essen Sie auch im Laufen?«
»Selbstverständlich.«
»Verzeihen Sie mir die Frage«, sagte Mallory, »aber wie zum Teufel sind Sie nur auf den Reitweg im Central Park gelangt?«
»Ich wünschte, ich wüsste es«, räumte Wilton-Smythe ein. »Ich denke, ich hätte in Melbourne wohl links abbiegen müssen.«
»In Melbourne, Australien?«
Der Läufer nickte. »Mysteriös, nicht wahr?«
»Gelinde gesagt«, pflichtete ihm Mallory bei.
»Nun«, sagte Wilton-Smythe, »ich habe unsere kleine Plauderei genossen, ich muss mich jetzt wirklich sputen.«
»An Ihrer Stelle würde ich mir eine Straßenkarte zulegen!«, rief ihm Mallory nach.
»Wozu?«, schrie Wilton-Smythe zurück. »Alle Wege führen nach Rom.«
Dann waren sie außer Rufweite, und Mallory wandte sich an Murgelström. »Was hältst du davon?«
»Er ist ein Narr«, antwortete der Elf prompt. Er runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf. »Andererseits müht er sich seit fast einem halben Jahrhundert konstant ab, während die meisten wirklich
Weitere Kostenlose Bücher