Justiz
mußte. Er setzte seine Brille wieder auf, seine Augen glotzten. Auch sein Weib glotzte mich entrüstet an, rückte eng an ihren Gatten und somit auch an mich.
»Die Wissenschaft steckt dahinter, junger Mann, nur die Wissenschaft. Zum ersten Male können die Folgen eines Mordes in der bürgerlichen Gesellschaft mit methodischer Gründlichkeit untersucht und erschöpfend dargestellt werden! Dank unseres fürstlichen Mörders. Eine Riesenchance! Zusammenhänge tauchen auf! Verwandtschaftliche, berufliche, politische, finanzielle, kulturelle. Nicht verwunderlich. Alles hängt zusammen in dieser Welt, auch in unserer lieben Stadt, einer stützt sich auf den anderen, einer protegiert den anderen, und wenn einer fällt, purzeln viele, und so sind denn viele gepurzelt. Stecke jetzt in der Darstellung der Folgen bei unserer verehrten Alma mater. Und das ist nur der Anfang.«
»Entschuldigen Sie, ein Auto.«
Ich zog die beiden in Sicherheit, Knulpes waren vor Aufregung vom Trottoir auf die Straße getreten, und ein Taxi mußte scharf 45
bremsen. Es war überfüllt, eine alte Dame mit einem Hut voller Kunstblumen prallte innen gegen die Scheibe, der Chauffeur schrie zum Fenster hinaus, war sehr grob. Knulpes wurden nicht einmal blaß.
»Gänzlich gleichgültig«, sagte er, »statistisch unerheblich, ob wir überfahren werden oder nicht. Nur der Auftrag zählt, nur die Wissenschaft.«
Aber Frau Professor Knulpe war anderer Meinung: »Um mich wäre es schade gewesen«, behauptete sie.
Das Taxi fuhr davon. Knulpe kam wieder auf seine soziologische Untersuchung zu sprechen.
»Mord ist Mord, gewiß, doch für einen Wissenschaftler ist er ein Phänomen, das wie alle anderen Phänomene erforscht werden muß.
Bis jetzt hat man sich darauf beschränkt, die Ursachen festzustellen, Motive, Herkommen, Umwelt, ich habe mich jetzt auf die Folgen zu werfen. Und da darf ich sagen: ein Segen für die Alma mater, ein Segen für die ganze Universität, dieser Mord, man möchte sozusagen selber etwas morden. Na ja, natürlich, an sich bedauerlich, so eine Untat, aber durch die unverhoffte Lücke, die Winter hinterließ, strömt frische Luft, neuer Geist. Toll, was sich da alles herausstellt, der liebe selige Winter war Sand im Getriebe, ein rückständiges Element, wie schon Shakespeare sagte: ›Der Winter unseres Mißvergnügens‹, aber ich will weder lästern noch kalauern, stelle einfach dar, liefere Fakten, junger Mann, Fakten und nichts weiter.«
Wir waren beim ›Pfauen‹ angelangt.
»Gott befohlen, Herr Rechtsanwalt«, sagten Knulpes und verabschiedeten sich. »Habe jemand Wichtiges von der ETH zu treffen«, fügte er noch bei, »habe nun auf diesem Terrain nachzuforschen. Winters Einfluß auf die Schulkommission stellt schon ein Kapitel für sich dar, wittere Sensationen. Kann rosig werden.« Am Eingang zum Restaurant kehrten sie sich noch einmal um, hoben den Finger: »Wissenschaftlich denken, junger Mann, wissenschaftlich denken. Das müssen Sie noch lernen. Auch als Rechtsanwalt, mein Bester«, sagte Frau Professor Knulpe, alias Moses Staehelin.
Sie verschwanden, und meinen Brief hatte ich noch immer nicht 46
eingeworfen.
b) Architekt Friedli: saß neben ihm kurz darauf im ›Select‹, den Brief immer noch in der Tasche. Select: Café, vor dem man sitzt und sitzen bleibt, seit jeher, seit ewig, oder doch seit Jahrmillionen, als noch die Brontosaurier den Fluß hinunterwateten, saß man schon da.
Friedli kannte ich von meiner Stüssi-Leupin-Zeit her, er hatte bisweilen Schwierigkeiten mit seinen Bodenspekulationen, doch konnte ihn nichts hemmen, er war und ist noch die Fettlawine, die unsere Stadt reinfegt, so daß in den Schneisen sich Geschäftshäuser, Appartementhäuser, Mietshäuser neu erheben, nur teurer als vorher, zu entsprechend fetten Preisen. Die Naturkatastrophe näher besehen: fünfzigjährig, schwitzende enorme Speckwülste, die Augen klein und funkelnd, irgendwo hineingesteckt, die Nase winzig, auch die Ohren, sonst alles riesig, Selfmademan, ein Kind der Langstraße (meine Alte, lieber Spät, ist zu fremden Leuten waschen gegangen, mein Alter hat sich zu Tode gesoffen, habe noch selber bei der Beerdigung eine Flasche Bier in sein Grab gegossen), nicht nur Radsportmäzen, ohne dessen Sonderpreise kein Sechstagerennen denkbar ist, an dem er inmitten des Hallenstadions thronend Unmengen von St.-Galler-Schüblig und Wienerwürstchen verschlingt, sondern auch Musikförderer, dank dessen das
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