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Justiz

Justiz

Titel: Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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gewissermaßen entgegengesetzt.«
    »Inwiefern?«
    »Sie sollen meinen Fall unter der Annahme neu untersuchen, ich sei nicht der Mörder gewesen.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Sie haben eine Fiktion aufzustellen, nichts weiter.«
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    »Aber Sie sind nun einmal der Mörder, da ist diese Fiktion doch sinnlos«, erklärte ich.
    »Nur so ist sie sinnvoll«, antwortete Kohler. »Sie sollen ja auch nicht die Wirklichkeit untersuchen, das tut der brave Knulpe, sondern eine der Möglichkeiten, die hinter der Wirklichkeit stehen.
    Sehn Sie, lieber Spät, die Wirklichkeit kennen wir ja nun, dafür sitze ich hier und flechte Körbe, aber das Mögliche kennen wir kaum.
    Begreiflich. Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, daß wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen.«
    Ich lachte: »Ein merkwürdiger Gedankengang, Herr Kohler.«
    »Man sinniert sich eben einiges aus hierzulande«, sagte er. »Sehen Sie, Herr Spät, oft in der Nacht, wenn ich die Sterne zwischen den Gitterstäben im Fenster erblicke, überlege ich mir, wie denn die Wirklichkeit aussähe, wenn nicht ich, sondern ein anderer der Mörder wäre. Wer wäre dieser andere? Diese Frage will ich von Ihnen beantwortet haben. Als Honorar zahle ich dreißigtausend, fünfzehn als Vorschuß.«
    Ich schwieg.
    »Nun?« fragte er.
    »Es klingt nach Teufelspakt«, antwortete ich.
    »Ich verlange nicht Ihre Seele.«
    »Vielleicht doch.«
    »Sie riskieren nichts.«
    »Möglich. Aber ich sehe den Sinn dieser Angelegenheit nicht ein.«
    Er schüttelte den Kopf, lachte.
    »Es genügt, daß ich den Sinn sehe. Um das Weitere haben Sie sich nicht zu kümmern. Was ich von Ihnen verlange, ist nichts als die Annahme eines Vorschlags, der in keiner Weise das Gesetz verletzt, und den ich zur Erforschung des Möglichen benötige. Die Spesen werden selbstverständlich von mir übernommen. Setzen Sie sich mit einem Privatdetektiv in Verbindung, am besten mit Lienhard, zahlen Sie ihm, was er will, Geld ist genug da, gehen Sie überhaupt so vor, wie Sie wollen.«
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    Ich überlegte mir aufs neue den merkwürdigen Vorschlag. Er gefiel mir nicht, ich witterte eine Falle, vermochte sie aber nicht zu entdecken.
    »Warum haben Sie sich ausgerechnet an mich gewandt?« fragte ich.
    »Weil Sie nichts von Billard verstehen«, antwortete er gelassen.
    Nun hatte ich mich entschieden.
    »Herr Kohler«, antwortete ich, »dieser Auftrag ist mir zu undurchsichtig.«
    »Geben Sie meiner Tochter Bescheid«, sagte Kohler und erhob sich.
    »Da gibt es nichts zu überlegen, ich lehne ab«, sagte ich und erhob mich ebenfalls.
    Kohler schaute mich ruhig an, strahlend, glücklich, rosig.
    »Sie werden meinen Auftrag annehmen, junger Freund«, sagte er,
    »ich kenne Sie besser als Sie sich selbst: Eine Chance ist eine Chance, und die benötigen Sie. Das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte. Und nun, Möser, gehen wir wieder Körbe flechten.«
    Die beiden gingen, Arm in Arm, so wahr ich lebe, und ich war froh, den Ort des vollkommenen Glücks zu verlassen. Eilig. Machte mich regelrecht aus dem Staube. Entschlossen, die Hände von der Angelegenheit zu lassen, Kohler nie mehr zu sehen.
    Ich sagte dann doch zu. Zwar war ich noch am anderen Morgen willens abzusagen. Ich fühlte, daß mein Ruf als Rechtsanwalt auf dem Spiele stand, auch wenn ich noch keinen Ruf besaß, aber der Vorschlag Kohlers war sinnlos, eine Spielerei, unter der Würde meines Berufs, eine bloße Gelegenheit, auf eine törichte Art Geld zu verdienen, die mein Stolz verschmähte. Ich wollte damals noch sauber durch die Welt kommen, sehnte mich nach wirklichen Prozessen, nach Möglichkeiten, den Menschen zu helfen. Ich schrieb einen Brief an den Kantonsrat, teilte ihm meinen Entschluß noch einmal mit. Die Sache war für mich erledigt. Den Brief in der Tasche verließ ich mein Zimmer in der Freiestraße, wie jeden Morgen, punkt neun, in der Absicht, mich gewohnheitsmäßig zuerst ins ›Select‹, 42
    später auf mein Studio (die Mansarde in der Spiegelgasse), noch später zum Quai zu begeben. In der Haustüre grüßte ich meine Vermieterin, blinzelte dann in der Sonne zum gelben Briefkasten neben dem Konsum hinüber, einige Schritte, eine Lächerlichkeit, doch da das Leben oft wie ein schlechter Romancier arbeitet, begegnete ich an

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