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Justiz

Justiz

Titel: Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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diesem föhnigen, drückenden, für unsere Stadt so typischen Alltagsmorgen, wie gesagt, zwischen neun und zehn gleich nacheinander a) dem alten Knulpe, b) dem Architekten Friedli, c) dem Privatdetektiv Lienhard.
    a) Der alte Knulpe: er erwischte mich beim Briefkasten. Ich wollte eben meinen Absagebrief einwerfen, als er mir zuvorkam, mit einem ganzen Bündel von Briefen, von denen er einen um den anderen sorgfältig einwarf. Der Alte war wie immer von seiner Frau begleitet.
    Professor Carl Knulpe war fast zwei Meter groß, ausgemergelt, schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen, wie Prediger Simon Berger und Niklaus von der Flüe, doch ohne Bart, verwildert, schmutzig, trug sommers und winters eine Pelerine, dazu eine Baskenmütze. Seine Gattin war ebenso groß wie er, ebenso ausgemergelt, ebenso verwildert und schmutzig, trug auch jahraus, jahrein Pelerine und Baskenmütze, so daß viele sie gar nicht für seine Frau, sondern für seinen Zwillingsbruder hielten. Beide waren bedeutend in ihrem Fachgebiet, beide Soziologen. Doch so unzertrennlich sie auch im Leben zusammenhielten, wissenschaftlich waren sie Todfeinde, die sich publizistisch oft boshaft bekämpften, er war ein großer Liberaler (›Kapitalismus als geistiges Abenteuer‹, Francke, 1938), sie eine leidenschaftliche Marxistin, bekannt unter dem Namen Moses Staehelin (›Marxistischer Humanismus des Diesseits‹, Europa-Verlag, 1939) beide durch die politische Entwicklung gleich gezeichnet: Carl Knulpe erhielt kein Visum für die USA, Moses Staehelin keines für die UDSSR, er hatte sich scharf gegen die »instinktiven marxistischen Tendenzen« der Vereinigten Staaten geäußert, sie noch umbarmherziger über den
    »kleinbürgerlichen Verrat« der Sowjetunion. Hatte. Leider ist die Vergangenheitsform notwendig: vor zwei Wochen zermalmte ein 43
    Lastwagen des Abbruchgeschäfts Stürzeier die beiden, er wurde begraben, sie kremiert, eine testamentarische Verfügung, die das Begräbnis nicht unerheblich erschwerte.
    »Grüß Gott«, machte ich mich bemerkbar, den Brief an Kohler noch in der Hand. Professor Carl Knulpe grüßte nicht zurück, blinzelte nur mißtrauisch durch seine staubige randlose Brille zu mir herunter, und auch seine Frau (mit gleicher Brille) schwieg.
    »Ich weiß nicht recht, ob Sie sich noch an mich erinnern, Herr Professor«, sagte ich etwas entmutigt.
    »Doch, doch«, antwortete Knulpe. »Erinnere mich. Studierten Jurisprudenz und trieben sich bei mir in der Soziologie herum. Sehen ein wenig wie ein ewiger Studiosus aus. Examen bestanden?«
    »Längst, Herr Professor.«
    »Rechtsanwalt geworden?«
    »Jawohl, Herr Professor.«
    »Tüchtig, tüchtig. Wohl Sozi, wie?«
    »Teils, Herr Professor.«
    »Ein wackerer Sklave des Kapitals, he?« fragte Carl Knulpes Frau.
    »Teils, Frau Professor.«
    »Haben wohl etwas auf dem Herzen«, stellte Carl Knulpe fest.
    »Jawohl, Herr Professor.«
    »Begleiten Sie uns«, sagte sie. Ich begleitete die beiden. Wir gingen gegen den ›Pfauen‹, den Brief hatte ich nun doch noch nicht eingeworfen, aus einer momentanen Vergeßlichkeit heraus, aber es gab ja noch viele Briefkästen.
    »Nun?« fragte er.
    »Ich besuchte Dr. h.c. Isaak Kohler, Herr Professor. Im Zuchthaus.«
    »So, so. Waren bei unserem kreuzfidelen Mörder. Ei, ei, beorderte er Sie auch zu sich?«
    »Gewiß.«
    Bald fragte der eine, bald fragte die andere.
    »Ist er immer noch glücklich?«
    »Und wie!«
    »Strahlt er noch immer?«
    »Und ob!«
    44
    Wir kamen an einem weiteren Briefkasten vorbei. Eigentlich wollte ich nun stehenbleiben, den Absagebrief einwerfen, doch Knulpes gingen weiter, ahnungslos, mit großen hastigen Schritten.
    Ich mußte laufen, um mitzuhalten.
    »Kohler hat mir erzählt, Sie hätten da einen recht eigenartigen Auftrag angenommen, Herr Professor«, sagte ich.
    »Eigenartig? Weshalb eigenartig?«
    »Herr Professor! Hand aufs Herz: daß Kohler seinen eigenen Mord auf die Folgen hin untersuchen läßt, ist doch eine gar zu verrückte Geschichte. Da mordet der Kerl am heiterhellen Tag, grundlos, so mir nichts dir nichts, und läßt dann noch soziologische Studien darüber anstellen, unter dem Vorwand, damit sei die Wirklichkeit auszuloten.«
    »Sie wird aber ausgelotet, junger Mann. Klaftertief.«
    »Da muß doch irgend etwas dahinterstecken! Irgendeine Teufelei!« rief ich aus.
    Knulpes blieben stehen. Ich keuchte. Er reinigte seine randlose Brille, trat auf mich zu, so daß ich zu ihm hinauf-, er zu mir heruntersehen

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