Justiz
provinzlerisch eben, unwirklich, was hier lebt, liebt, frißt, schiebt, geschäftelt und tüftelt, sich weiterzeugt und weiterorganisiert? Was stellen wir noch dar? Was repräsentieren wir noch? Steckt noch ein Körnchen Sinn, ein Gran Bedeutung in der Bagage, die ich beschreibe? Aber vielleicht lauert die Antwort auf diese Frage hinter allem und jedem, vielleicht bricht sie unvermutet aus jeder denkbaren menschlichen Situation und Konstellation hervor, überfallartig, wie aus einem Versteck. Die Antwort wird das Urteil über uns sein, der Vollzug dieses Urteils die Wahrheit. Ich will es glauben. Leidenschaftlich und beharrlich. Nicht der exquisiten Gesellschaft zuliebe, in der ich vegetiere, nicht dieser unerträglichen Relikte wegen, die mich umgeben, sondern um der Gerechtigkeit willen, der zuliebe ich handle, handeln muß, will ich mir den letzten 92
Rest Menschlichkeit bewahren (pathetisch, feierlich, erhaben, heiliger Ernst mit Orgelbegleitung, was ich da niederschreibe, aber ich streiche es nicht durch, korrigiere es nicht, wozu auch Korrekturen, wozu auch Stil, nicht literarische Ambitionen leiten mich, sondern mörderische Absichten, im übrigen: nicht betrunken, Herr Staatsanwalt, Irrtum, nicht betrunken, nur nüchtern, eisig nüchtern, tödlich nüchtern). Es bleibt mir darum nichts anderes übrig (Auf Ihr Wohl, Herr Staatsanwalt!), als zu saufen, zu huren, zu berichten, meine Bedenken anzumelden, meine Fragezeichen zu setzen und zu warten, zu warten, bis sich die Wahrheit enthüllt, bis sich die grausame Göttin entschleiert (doch literarisch geworden, zum Kotzen). Das wird nicht in diesen Papieren geschehen, die Wahrheit ist keine Formel, die sich aufzeichnen läßt, sie liegt außerhalb jeder sprachlichen Bemühung, außerhalb jeder Dichterei, nur im Hereinbrechen des Gerichts, in diesem ewigen Selbstvollzug der Gerechtigkeit wird sie wirksam, ist sie zu ahnen. Wahrheit wird sein, wenn ich einmal vor Dr. h. c. Kohler stehen werde, Auge in Auge, wenn ich die Gerechtigkeit verwirklichen und das Urteil vollziehen werde. Dann wird einen Augenblick, einen Herzschlag, eine blitzschnelle Ewigkeit, die peitschende Sekunde eines Schusses lang die Wahrheit aufleuchten, die Wahrheit, die sich mir jetzt beim Nachdenken verflüchtigt, die kaum mehr zu sein scheint als ein bizarres böses Märchen. Als ein solches kommt mir auch mein Besuch bei der »echten« Steiermann vor: mehr Traum als Wirklichkeit, mehr Sage als Tatsache.
Monika Steiermann II: ›Mon Repos‹ ist am Rande unserer Stadt in einem riesigen und so verwilderten Park gelegen, daß die Villa seit langem beinahe unsichtbar geworden ist, nur im Winter sind bisweilen mühsam und unbestimmt einige Gemäuer und ein Giebel durch das wirre Geäst alter Bäume gegen den Wagnerbühl hin zu erraten. An Empfänge in ›Mon Repos‹ vermögen sich nur noch wenige zu erinnern. Vater und Großvater der »echten« Monika gaben ihre Feste und Jubiläen schon auf ihren Landsitzen am Zuger- und Genfersee, hielten sich in unserer Stadt nur auf, um zu arbeiten (sie 93
stellten noch Schwerarbeiter der Industrie dar), feiern taten sie auswärts, während die Damen, besuchten sie unsere Stadt, im
›Dolder‹, im ›Baur au Lac‹ oder eben im ›Breitingerhof‹ logierten.
›Mon Repos‹ wurde nach und nach eine Sage, besonders nachdem eines Morgens drei Einbrecher, die aus Deutschland eingereist waren, jämmerlich zusammengeschlagen vor dem Parkportal der Steiermannschen Villa lagen; die Polizei gab dazu keinen Kommentar. Lüdewitz hatte sich eingeschaltet. Außer Daphne, die man für Monika Steiermann hielt, schien sich niemand in dem Haus aufzuhalten, die Lieferanten hatten ihre Ware in eine leere Garage neben dem Parkportal zu stellen, doch war die Menge der Lebensmittel beträchtlich. Daphne selber lud niemanden in die Villa ein, sie besaß noch ein Appartement in der Aurorastraße. Ich hatte schon zwei Treupel zu mir genommen, als ich zum Wagnerstutzweg fuhr. Der Wetterumsturz war wieder einmal umgestürzt, der See schien ein Rinnsal, so nah war das andere Ufer. Vier Uhr nachmittags. Vor dem Parkportal hielt ich an, den Wagen halb auf dem Trottoir geparkt. Das Portal war unverschlossen. Ich ging in den Park hinein, unsicher, die Treupel wirkten noch. Der Kiesweg führte aufwärts, hin und wieder einzelne hölzerne Stufen, aber er war durchaus nicht steil, wie ich erwartet hatte, bedeutet doch Stutz eine jähe Steigung. Der Park war ungepflegt, die Wege nicht
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