Justiz
Gespräch wiederzugeben, ist ein Wunder, es ist schon halb zwei nachts, ich muß inzwischen eingenickt sein – noch etwas mehr als zwanzig Stunden – neunzehn Stunden, ich habe mich verschaut, es ist halb drei Uhr nachts – wird Kohler – Dr. h.c. Isaak Kohler –, das Gespräch mit Simon Berger muß auf der Treppe stattgefunden haben, als ich mit dem Whisky Stüssi-Leupins in die Spiegelgasse zurückgekehrt bin. Es müssen Wochen vergangen sein, seit die Psalmen der Letzten vom Uetli verstummt sind, plötzlich hatten sie aufgehört zu dröhnen – Stuber von der Sitte hatte mich aufgesucht und mir nicht undeutliche Winke gegeben, daß man amtlicherseits einen Zusammenhang zwischen mir und dem organisierten Strich weiterhin vermute, als der Psalm ›Jesu Christ, an deinen Wunden‹
jäh abbrach, darauf ertönte ein Schreien, Protestieren, Aufheulen, ein Lärm sondergleichen, darauf ein Treppen-Hinunterpoltern von vielen Füßen, dann Totenstille, und Stuber setzte seine Vermutungen fort: Darum hätte ich eigentlich erstaunt sein müssen, vor der Türe des Sektenlokals im Stockwerk unter mir den Prediger vorzufinden. Er lehnte gegen die Türe, unbeweglich, ich wollte an ihm vorbei, er taumelte gegen mich. Er wäre gefallen, hätte ich ihn nicht aufgefangen. Wie ich ihn von mir schob, sah ich, daß sein Gesicht verbrannt und augenlos war. Entsetzt wollte ich weitergehen, die Treppe hinauf, in mein Zimmer, aber Berger ließ mich nicht los, er umklammerte mich und schrie, er habe in die Sonne gestarrt, um Gott zu schauen, und wie er Gott erblickt habe, sei er sehend geworden, vorher sei er blind gewesen, aber nun sehe er, sehe er, und dies schreiend, riß er mich nieder, worauf wir auf die Treppe zu liegen kamen, die zu meinem Zimmer führte. Ich weiß nicht, was er mir alles erzählte, ich war zu betrunken, um es zu begreifen, wahrscheinlich war es Unsinn, was er vom Innern der Sonne 136
schwatzte, von der totalen Finsternis, die dort herrsche, die eins sei mit der Verborgenheit Gottes, die man nur zu erkennen vermöge, wenn man sich von der Sonne die Augen ausbrennen lasse, erst dann nehme man wahr, wie sich Gott als dimensionsloser Punkt vollendeter Schwärze im Sonneninnern vertiefe, mit unendlichem Durst die Sonne in sich aufsauge, in sich hineinschlürfe, ohne größer zu werden, als sei er ein Loch ohne Boden, der Abgrund des Abgrunds, und wie sich die Sonne nach innen entleere, so weite sie sich aus, noch bemerke man nichts, doch morgen halb elf Uhr nachts werde es soweit sein, die Sonne werde, nur noch Licht geworden, aufstrahlen und sich ausweiten, mit Lichtgeschwindigkeit, und alles versengen, die Erde werde im ungeheuren Lichtschein verdampfen, so ungefähr, er sprach wie betrunken zu einem Betrunkenen, der ich damals war und der ich jetzt noch betrunkener bin und nicht weiß, warum ich von diesem Sektenprediger schreibe, der verhüllt vor seine Gemeinde trat, ihr den Weltuntergang verkündete und mit der Aufforderung, seine Anhänger sollten sich wie er die Augen von der Sonne ausglühen lassen, das Tuch vom Kopf riß: Das Schreien, Protestieren, Aufheulen, der Lärm sondergleichen, den ich gehört hatte, die die Treppe hinunterpolternde Gemeinde war die Antwort gewesen. Wiedergelesen, was ich geschrieben habe. Noch drei Stunden etwa, bis ich zum Flughafen aufbrechen muß. Der Kommandant war schon um halb acht morgens gekommen, oder noch früher, er saß vor meiner Couch, ich war erstaunt, als ich erwachte, ihn dasitzen zu sehen, das heißt, ich bemerkte ihn erst, als ich mich übergeben hatte und vom WC zurückkam und mich wieder auf die Couch legen wollte. Der Kommandant fragte, ob er Kaffee zubereiten solle, er ging dann, ohne meine Antwort abzuwarten, zur Kochnische, ich schlief wieder ein, als ich zu mir kam, war der Kaffee schon bereit, wir tranken schweigend. Ob ich wisse, fragte dann der Kommandant, daß ich ein jeder zehnte sei, und auf meine Frage nach der Bedeutung seiner sonderbaren Frage antwortete er, daß er jeden zehnten laufenlasse, und ich sei einer von diesen. Sonst hätte er mich am Grabe Daphnes verhaften müssen, er sei wie ich Rechtsanwalt gewesen, ein erfolgloser wie ich, nur hin und wieder sei er als Pflichtverteidiger eingesetzt worden, und so sei er denn bei 137
der Polizei gelandet, als Sozialist hätten ihm Parteifreunde, die nie im Traum daran gedacht hätten, sich an ihn zu wenden, hätten sie privat einen Rechtsanwalt gebraucht, einen Posten in der Kriminalabteilung der
Weitere Kostenlose Bücher