Juwel meines Herzens
etwas Exotisches. Und obwohl Nolan gedachte, in sicherer Entfernung davon verschont zu bleiben, hatten ihre unglaublich grünen Augen trotz der Distanz eine hypnotische Wirkung auf ihn.
Aber auch ihr Wesen trug neben ihrer körperlichen Erscheinung zu der Faszination bei, die von ihr ausging: Wie sie dort mit zum Himmel ausgebreiteten Armen stand; die Art, wie sie den Soldaten in der Taverne mit ungezwungener, aber vollkommener Selbstsicherheit gegenübergetreten war – all das hatte Nolans Entschlossenheit, sich der Karte zu bemächtigen und dann zu verschwinden, in Stücke gerissen. Jewel Sanderson besaß eine leidenschaftliche Lebensfreude, die ihr die Wirklichkeit noch vergällen würde. Und genau das war der Grund, weshalb sie von diesem Schiff verbannt werden musste. Trotzdem wehrte sich etwas in Nolan dagegen, dass er derjenige sein sollte, der für immer ihren leuchtenden Blick trüben und ihr das freundliche Lächeln nehmen würde. Wenn ihr bisheriges Schicksal – vom Vater verlassen und zur Arbeit in einer Taverne gezwungen – das noch nicht erreicht hatte, dann würden weder er noch seine Mannschaft dafür sorgen. Obwohl er nur gute Männer verpflichtet hatte – er hatte alle wegen ihrer Aufrichtigkeit und nicht wegen ihrer Erfahrung als Seemänner ausgewählt –, blieben sie trotz allem noch Männer, mit all den ihnen eigenen Gelüsten.
»Mr. Tyrell!«, rief Nolan schließlich entschlossen. Die Reaktion ließ einen Augenblick auf sich warten, und als sich sein Offizier endlich umwandte, geschah es mit unverhohlener Verärgerung. »Geben Sie den neuen Männern etwas zu essen. Sie sehen aus, als hätten sie bei den Engländern Hunger leiden müssen.«
Tyrell nickte, ließ dann aber seinen Blick sofort wieder zu Jewel schweifen. Hatte er denn noch nie im Leben eine Frau gesehen? Jedenfalls mit Sicherheit keine, die Männerkleidung trug, darauf würde er wetten. »Mr. Tyrell, befolgen Sie meine Befehle«, fügte Nolan streng hinzu.
»Aye, Captain«, antwortete Tyrell, ohne seinen Vorgesetzten eines Blickes zu würdigen, dann trommelte er die neuen Seemänner zusammen. Genau wie Nolan befürchtet hatte, waren sie zwischen fünfzehn und sechzig Jahre alt und die meisten von ihnen vollkommen ausgezehrt. Wahrscheinlich würde selbst ein ganzer Monat mit guten Mahlzeiten nicht ausreichen, um ihnen Fleisch auf die Knochen zu zaubern.
Auf seinem Weg zum Unterdeck des Schiffes passierte Tyrell Jewel, drehte sich ihr zu und verbeugte sich kokett. Nolan beobachtete die Situation. Für gewöhnlich traten seine Männer Frauen mit dem größten Respekt entgegen, aber die Tatsache, dass jetzt sogar Tyrell Jewel auf eine Art anstarrte, welche die Sittsamkeit bei weitem überschritt, führte Nolan die Dringlichkeit des Problems deutlich vor Augen. Egal ob Jewel ihre Arbeit als Schankmädchen nun auf sexuelle Dienste ausgedehnt hatte oder nicht, Nolan gefiel es nicht, dass Tyrell offensichtlich davon ausging, dass dem so gewesen war. Aber wer konnte es dem jungen Leutnant schon verübeln? Jewel legte nicht gerade das Verhalten einer Dame an den Tag. Mit ihrer kühnen Ankunft auf der
Integrity
hatte sie das zur Genüge demonstriert.
Als Nolan vortrat, um dem Ganzen ein Ende zu machen, setzte sich Tyrell mit den neuen Besatzungsmitgliedern pflichtschuldig in Bewegung, doch die jungen Burschen besaßen noch immer die Dreistigkeit, Jewel über die Schulter hinweg anzustarren.
»Was für ein wunderbarer Tag, Nolan!«, rief sie voller Freude aus. »Ich war noch nie auf einem Schiff.« Langsam schloss sie ihre Augen, hielt aber ihr Gesicht weiterhin der Sonne entgegen. Sie seufzte tief, in Nolans Ohren der Inbegriff von Sinnlichkeit. »Ich habe mich noch nie so frei gefühlt.«
Steif und mit vor der Brust verschränkten Armen stand er neben ihr. Erinnerungen daran, wie er sich gefühlt hatte, als er zum ersten Mal an Bord eines Schiffes gewesen war, stiegen in ihm auf. Wie frei … Doch das schien bereits eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen, und einige seiner bittersten Lektionen hatten ihm die Freude am Meer verdorben. In Jewels Gegenwart fühlte er sich, als wäre er schlagartig um fünfzig Jahre gealtert. »Jewel.« Schnell ermahnte er sich, einen formellen Ton anzuschlagen. »Ich meine, Miss Sanderson. Ich muss Euch als Passagier auf meinem Schiff bitten, sich an meine Regeln zu halten. Von nun an nennt mich Captain Kenton.«
Jewel salutierte aufmüpfig grinsend. »Aye, aye, Captain Kenton.«
Nolan
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