K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
bemerke einen Fatalismus, eine Kälte, sogar einen Verlust an Menschlichkeit an ihnen, so als wäre die Politik alles und alles andere nichts. Einige von ihnen sind auch sehr arrogant. Ich sehe, dass die Leute ihre Ziele außerhalb der Realität ansiedeln, sich verschließen, und das gilt sowohl für die Weicheier von der Chemie als auch für die Aufgeklärten und Engagierten. Es passiert etwas sehr Falsches und Hässliches, aber ich kann nicht definieren, was es ist. Weißt du, das eine ist, zu träumen und Gefahren auf sich zu nehmen, aber dabei Hoffnungen zu hegen, und etwas ganz anderes ist das, was zur Zeit geschieht. Eine ausweglose und unerklärliche Situation, ganz genau so wie im Film von Buñuel. Ein Druck, der nicht auszuhalten ist und der keine einzige Perspektive bietet. Ich weiß schon nicht mehr, was Wahrheit ist und was Lüge. Das Schlimmste ist, mit niemandem sprechen zu können, außer mit meinem Mann, aber der gehört ausgerechnet zur harten Linie. Apropos: Weder mein Bruder noch mein Vater wissen, dass wir geheiratet haben. Mein Vater weiß nichts von meinem Leben. Alles hat seine Gründe. Ich würde dich wahnsinnig gern sehen, aber wenn du nach São Paulo kommst, nimm nicht direkt Kontakt zu mir auf, ruf zuerst eine Freundin an, und ich finde dann einen Weg, dich zu treffen. Ich bitte dich auch, eine Antwort auf diesen Brief nicht per Post zu schicken und auch nicht an die Adresse meines Vaters. Was auch immer geschehen mag, du sollst wissen, dass ich dich sehr gern habe.
Sei umarmt und geküsst.
A.
Aneignung von Büchern
Er klaute Bücher. Seine Tasche hatte ein Geheimfach, wo er sie leicht verstecken konnte. Er ließ alles mögliche mitgehen: philosophische Abhandlungen, volkswirtschaftliche Handbücher, geschichtliche Werke, Biografien und Gesellschaftsromane; er zog jedoch die Klassiker der marxistischen Lehre vor. Nach und nach verschaffte er sich das Gesamtwerk von Marx und Engels und die wichtigsten Bücher von Caio Prado, Leôncio Basbaum, Celso Furtado, Josué de Castro und Ignácio Rangel. Er entwand auch Bücher jüngeren Datums, die den Imperialismus anprangerten und die Befreiungskämpfe der afrikanischen und asiatischen Völker priesen.
Er kannte sämtliche Buchhandlungen und Antiquariate in São Paulo, selbst die verborgensten, die im Innern von Hochhäusern lagen und nicht im Parterre an der Straße. Er suchte sie regelmäßig auf und kaufte bei jedem zweiten oder dritten Mal ein Buch, um kein Aufsehen zu erregen. Die Buchhändler hielten ihn für einen guten Kunden, obwohl er kurioserweise nur Bücher mit erschwinglichen Preisen wählte. Vielleicht hat er nicht viel Geld, dachten sie.
Er war in der Tat nicht reich. Aber er war auch kein armer Schlucker. Er absolvierte ein Abendstudium und arbeitete tagsüber als Programmierer, ein Beruf, der ihm leicht fiel, relativ selten war und derzeit gutes Geld brachte. Er verfügte über einen hohen IQ und war kulturell gebildet; einen Großteil der geklauten Bücher las er.
Er hätte die Bücher bezahlen können, aber er klaute aus Prinzip. Er führe sie im Namen der sozialistischen Revolution in sein Eigentum über, erzählte er den wenigen, die sein Geheimnis teilten. Es war, als praktiziere er die Subversion, die das Buch verkündete, bereits; jede Aneignung ein Akt der Sabotage gegenüber dem Markt, der aus Ideen Profit schlug. Ein Bakunin als Feind des Privateigentums; ein Revolutionär, der Munition für den großen Überfall auf die Macht hortete. Er betrachtete den Umstand der wiederholten Ordnungswidrigkeiten als erzieherisches und anspornendes Prinzip.
Er kannte auch die Untergrund-Buchhandlungen der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei und der beiden Flügel des Trotzkismus, den der Lambertisten und den der IV. Internationale. Die eignete er sich allerdings nicht an. Er war ein Revolutionär, kein Dieb.
Sein markantestes Kennzeichen war der vorstehende Unterkiefer, was ihm einen Ausdruck von Bestimmtheit und Strenge verlieh. Obwohl er jung war, ein Student, schien es, als sei er schon im Krieg gewesen und daraus zurückgekehrt. Nie hörte man ihn einen Witz erzählen, wenn er auch oftmals ein ironisches Lächeln aufsetzte, wie jemand, der sich überlegen fühlt. Er stand über den einfachen Menschen, denn er war überzeugt von seiner revolutionären Bestimmung. Und anders als viele seiner Kollegen, die sich auch als Rebellen und Sozialisten gaben, aber kaum etwas taten, konzentrierte er all seine Energien auf
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