K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
die Vorbereitung des revolutionären Kampfes. Seine Leidenschaft für die Revolution fand nur in seiner Liebe zu den Büchern ein Pendant.
II
An dem Tag, als die Militärs aufmarschierten und die Bürgerrechte außer Kraft setzten, während Angst und Unsicherheit die linken Aktivisten überfielen, beauftragte unser Mann kurz entschlossen einen seiner Mitverfechter der sozialistischen Ideen, der einen Wagen hatte, mit einer Sondermission.
Mit Entschiedenheit und kühlem Kopf klapperten sie die Büros und Buchhandlungen der linken Parteien ab, die man, wie er wusste, Hals über Kopf aufgegeben hatte. Zuerst die eine, dann die andere, keine wurde vergessen.
Systematisch sammelten sie sämtliche Bücher, Flugblätter, Zeitungen und alles, was sie fanden, ein, wie jemand, der ein Kriegsarsenal an eine Stelle verbringt, die sicherer ist, damit es dem Feind nicht in die Hände fällt. Im Büro der Sozialistischen Partei sammelten sie sogar die Ordner mit den Unterlagen der Mitglieder ein.
III
Später, als die Militärs ihn verhafteten und verschwinden ließen, hinterließ er als einzigen Nachlass die revolutionäre Bibliothek mit mehr als tausend Bänden, von denen die meisten zu den angeeigneten zählten. Kurioserweise hatte er auf der ersten Seite eines jeden Buches mit sicherer, schneller Schrift mit seinem Vor- und Nachnamen unterzeichnet und das Datum der Aneignung hinzugefügt.
Ob er Besitz anmelden wollte? Nein. Möglicherweise aber hatte er schon immer geahnt, dass die Bücher die einzigen Spuren seiner revolutionären Berufung sein würden, kleine Erinnerungssteine auf einem bis heute nicht existierenden Grab.
Jacobo tritt in Erscheinung
I
An der hinteren Wand sitzend, hat K. einen guten Überblick über das Schnellrestaurant, er mustert jeden Einzelnen. Er hat das Gefühl, in einem amerikanischen Film zu sein, dann begreift er, was man hinter diesen Szenen erkennen kann. Die Figur mit dem in den Nacken geschobenen Filzhut kann nur ein Jude sein, er liest eine jiddische Zeitung; dann ist da der Typ mit der Aktenmappe, der es wohl eilig hat, der Taxifahrer, der noch die Mütze auf dem Kopf trägt und aussieht wie ein Italiener. Das Amerika der europäischen Immigranten hat sich in diesem Schnellrestaurant eingefunden.
Es bedrückt ihn die Tatsache, dass er an Filme denken kann, wo er doch aus einem einzigen Grund hier ist: den Aufenthaltsort seiner Tochter ausfindig zu machen. Und sich vorzustellen, dass er selbst einer dieser Immigranten hier hätte sein können, aber in Brasilien gelandet war. Wer weiß, wenn er anstatt nach Südamerika nach Nordamerika ausgewandert wäre, wie sein Vetter Simon, hätte sich diese Tragödie vielleicht nicht ereignet.
Vor zwanzig Jahren war er nach New York gefahren, um den Preis für sein Gedicht »Hagibor« entgegenzunehmen, das in der Zeitschrift Di Zukunft erschienen war. Das Bild, das sich ihm darbot, hatte sich kaum verändert. Doch in der Zwischenzeit waren bereits drei der fünf jiddischen Zeitungen in New York eingegangen. Wie kann eine Sprache so schnell verschwinden? Die Deutschen haben diejenigen umgebracht, die lasen, und Stalin diejenigen, die schrieben, wiederholt er innerlich den Spruch, den er immer in seinen Vorträgen anzubringen pflegte.
Ach, hätte er doch nicht immer über die jiddische Sprache, über die jiddische Literatur nachgedacht und seiner Tochter – seinen Kindern – mehr Aufmerksamkeit geschenkt … Nun saß er hier, trank seinen dünnen Kaffee und wartete darauf, dass das Büro des American Jewish Committee aufmachte. Er hatte einen Termin um neun.
II
Das Gebäude zeugt von der Solidität der Morgans und Rockefellers, es symbolisiert das Amerika derjenigen, die mit der Stahl- und Erdölindustrie riesige Vermögen erworben hatten. Am Eingang bleibt er beeindruckt vor einer Bronzetafel zum Gedenken an die jüdischen Mädchen aus bettelarmen Familien stehen, die mit Heiratsversprechen nach Amerika eingeschifft und zur Prostitution gezwungen worden waren: die Polackinnen, wie sie in Brasilien genannt werden. Sofort fällt ihm ein: Die Juden in Bom Retiro haben nicht den Anstand besessen, eine solche Tafel aufzuhängen.
Empfangen wird er von Irineu Blaumstein, einem älteren Herrn, der vielleicht in seinem Alter ist. Sie unterhalten sich auf Jiddisch. Blaumstein sagt, dass er ihn kennt, von seinen in den New Yorker Zeitungen abgedruckten Erzählungen und Gedichten. K. erzählt von dem Verschwinden seiner Tochter und seines
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