K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
nichts gibt, das man verwüsten oder schänden könnte, dann gibt es auch keinen Grund, die matseyve zu setzen.«
K.s Interesse ist erloschen. Erbittert fällt ihm erneut die Ansicht ein, die er schon in seiner Jugend vertreten hatte, dass nämlich das Wissen der Rabbiner nichts weiter als ein Wortspiel mit Wurzeln im Mittelalter und ohne Bezug zur Realität ist. Genau diese Rabbiner haben keinen Finger gerührt, als er an ihre Hilfsbereitschaft appelliert hat. Sogar der Erzbischof von São Paulo hat sein Bestes getan und diese Rabbiner überhaupt nichts.
»Es ist auch verboten, die Bösen zusammen mit den Gerechten zu begraben, und es gibt viele andere Regeln, wie du weißt. Für Maimonides dürfen diejenigen, die mit Nichtjuden verheiratet sind, nicht auf dem heiligen Acker beerdigt werden. Auch die Selbstmörder dürfen nicht auf dem Friedhof selbst begraben werden, sondern nur entlang der Mauer.«
Vorhin hat er unterstellt, sie sei nicht rein, jetzt spricht er von Selbstmord. Weiß er irgendetwas? Er weiß von nichts. Oder will er sagen, sie sei keine gute Jüdin gewesen, keine rechtschaffene Frau, weil ihr Mann ein goy war? Mit solchen Argumenten hatte man den Polackinnen das Recht auf ein Grab auf dem Friedhof von Vila Mariana verwehrt; sie, die keine Verbrecherinnen waren, nur mittellose, von der Mafia getäuschte Jüdinnen – eine schmerzliche, von allen verdrängte Geschichte –, mussten ihren eigenen Friedhof gründen, im fernen Stadtteil Chora Menino. Die Polackinnen von Santos ebenfalls.
Der Rabbi fährt mit seinen Überlegungen fort: »Ein Friedhof erfüllt auch eine erzieherische Funktion, und zwar die, uns daran zu erinnern, dass, wenn uns der Todesengel holt, wir alle gleich sind; deshalb müssen die Grabsteine schlicht sein, nur ein Stein mit Inschrift, den Namen des Toten, sein Geburts- und sein Todesdatum, die Namen des Vaters und der Mutter.«
K. beginnt zu zweifeln. Ob die Gemeinde sich auch so gleichgültig verhalten hätte hinsichtlich dessen, was seiner Tochter zugestoßen ist, wenn es sich um eine Angehörige der Familien Klabin oder Safra gehandelt hätte? Weder die Gemeinde noch dieser Rabbi und vielleicht auch nicht diese Verbrecher, die der Regierung angehörten, hätten sich so verhalten. Niedergeschlagen, aber bestimmt verabschiedet sich K. kurz angebunden und geht schnell zur Treppe. Die letzten Sätze des Rabbis hallen noch in seinen Ohren nach:
»Was du im Grunde willst, ist ein Denkmal zu Ehren deiner Tochter und nicht einen Grabstein, eine matseyve; aber sie war doch eine Terroristin, nicht wahr? Und du willst, dass unsere Gemeinde einer Terroristin auf dem Gottesacker Ehre erweist, ein Risiko eingeht wegen einer Terroristin? Sie war doch Kommunistin, oder?«
Die gleiche Bezichtigung in Form einer Frage. Sie war genau mit denselben Worten vor einem Monat von einem millionenschweren Juden formuliert worden, dem der Fernsehsender gehörte, ein Freund ehemaliger Staatspräsidenten und Generäle. K. hatte ihn auf Empfehlung eines anderen, auch sehr wichtigen Landsmannes aufgesucht. Er hatte ihm die Geschichte seiner Tochter erzählt in der Hoffnung, über ihn an irgendwelche Informationen seitens seiner Freunde, der Generäle, heranzukommen. Der jüdische Millionär hörte ungeduldig zu und fragte wie jemand, der das Geschehene rechtfertigt und damit das Gespräch beendet: »Aber sie war doch Kommunistin, oder?« Daraufhin hatte K. ihm ins Gesicht geschleudert: »Sie war Dozentin an der USP.«
Betrübt über den Misserfolg hinsichtlich der matseyve, kam K. auf die Idee, ein kleines Büchlein als Andenken an seine Tochter und seinen Schwiegersohn zu verfassen. Einen Grabstein in Form eines Buches. Ein Buch in memoriam. Das machte man manchmal auch in Polen, wenn auch nicht als Ersatz für eine matseyve. Er würde eine ungefähr acht- bis zehnseitige Broschüre zusammenstellen mit Fotos und Erlebnisberichten ihrer Freundinnen, würde hundert Kopien drucken lassen und sie sämtlichen Angehörigen, Bekannten und Freunden persönlich in die Hand drücken; einige würde er auch an die Verwandten in Erets Yisro’el schicken.
Es machte mehr Arbeit, als er gedacht hatte. Er musste die Berichte anfordern und abtippen; danach ein Layout entwerfen und die Stellen für die Texte und Fotos auf den acht Seiten der Erinnerungsschrift kenntlich machen. Die Freundinnen der Tochter halfen ihm, denn K. konnte nur auf Hebräisch und Jiddisch fehlerfrei schreiben. Jede von ihnen verfasste einen
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