K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Grabsteins für seine Tochter neben dem Grab seiner Frau auf dem Israelischen Friedhof Butantã erlauben. Doch der Rabbiner weist nicht nur seine Bitte zurück, sondern er reagiert auf seine Geschichte äußerst kühl.
Einige Monate später wird sich das ändern, nachdem ein anderer, weitaus modernerer, aus den Vereinigten Staaten kommender Rabbi sich an einem ökumenischen Gottesdienst für den jüdischen Journalisten, den die Militärs umgebracht haben, beteiligt. K. ist seiner Zeit ein Stück voraus.
»Es gibt weder im gesamten Talmud noch in den vierzehn Bänden der Mishneh Torah auch nur ein einziges Wort, das von einer matseyve auf einem leeren Grab handelt«, sagt der Rabbi. In professoralem Ton fährt er fort:
»Was bedeutet denn Beerdigung, wenn nicht, der Erde das zurückzugeben, was aus der Erde entstanden ist? Adam, adamah, Mensch und Erde, das gleiche Wort; der Körper löst sich allmählich auf und allmählich befreit sich die Seele; deshalb ist das Einäschern oder Einbalsamieren bei uns verboten; es ist verboten, Metallsärge zu verwenden; verboten, sie mit Nägeln zu verschließen und vieles mehr. Ein Begräbnis ohne körperliche Überreste macht keinen Sinn.«
K. muss sich nicht von diesem Rabbiner belehren lassen. Er hat all diese Bücher als kleiner Junge im kheyder, in der Schule, gelesen, sogar den Sohar. Sicher beherrscht er das Hebräische besser als jeder Rabbiner in São Paulo. Wenn er auch die Religion ablehnt, so kennt er doch ihre Gesetze; er weiß, dass der Stein ein Jahr nach dem Tod gesetzt werden muss, wenn, so die weisen geoynim, die Erinnerung an den Toten am stärksten ist.
K. verspürt mit besonderer Intensität die Sinnhaftigkeit dieser Bestimmung, den Drang, einen Stein für seine Tochter aufzustellen, nachdem er sie vor einem Jahr verloren hat. Wenn es keinen Stein gibt, ist das, als ob es sie nie gegeben hätte, und das stimmt nicht: sie hat existiert, ist herangewachsen, ihre Persönlichkeit hat sich entfaltet, sie hat sich ihr Leben eingerichtet, ihr Studium beendet, geheiratet. Er empfindet das Fehlen dieses Grabsteins als ein zusätzliches Unglück, als eine weitere Strafe für seine Ahnungslosigkeit hinsichtlich dessen, was seiner Tochter direkt unter seinen Augen angetan worden ist.
»Ohne körperliche Überreste gibt es kein Ritual, gibt es nichts«, setzt der Rabbi seine Rede fort. Es gibt keine taharah, die Wiederherstellung der körperlichen Reinheit. Und weshalb waschen wir den Körper? Weil nur ein reiner Körper auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt werden darf …«
Will dieser Rabbi etwa sagen, meine Tochter sei nicht rein gewesen? Was weiß er denn schon von meiner Tochter … nichts. Für K. sprach der Rabbiner leere Worte. Sie hatten ihm bereits bei der Beerdigungsgesellschaft, der Khevrah Kadisha, gesagt, ohne Leichnam könne man keine matseyve aufstellen. Er entgegnete Avrum, dem Sekretär der Beerdigungsgesellschaft, dass am Eingang des Friedhofs Butantã ein großer Gedenkstein an die Opfer des Holocaust steht und in der Erde darunter keine einzige Leiche liegt. Avrum hatte ihn getadelt, weil er das, was mit seiner Tochter geschehen war, mit dem Holocaust verglich, nichts ist mit dem Holocaust vergleichbar, sagte er; er hatte sich sogar erhoben, so verärgert war er. Den Holocaust gibt es nur einmal, er ist einzig und ist das Böse schlechthin. Dem stimmte K. zu, antwortete aber, für ihn sei die Tragödie seiner Tochter die Fortsetzung des Holocaust. Als Argument führte er an, dass es in Erets Yisro’el aus dem gleichen Grund üblich ist, auf der matseyve des Toten auch die Namen seiner dem Holocaust zum Opfer gefallenen Verwandten aufzuführen. Dieser Verweis auf den Brauch in Erets Yisro’el war entscheidend. Der Sekretär gab nach, aber da es eine ähnliche Situation noch nie gegeben hatte, verlangte er die Zustimmung eines Rabbiners. Aus diesem Grund hatte K. den als modern geltenden Rabbi, der noch immer gegen die Aufstellung eines Grabsteins eifert, aufgesucht.
»Die Aufstellung des Grabsteins ist lediglich die letzte Etappe der Bestattung, damit Familienangehörige und Freunde des Toten gedenken können und das Kaddisch für seine Seele sprechen. Welches ist der Ursprung der matseyve ? Weshalb haben unsere Vorfahren den Stein aufgestellt? Er wurde auf die Gräber gestellt, damit diese nicht verwüstet und die Leichen nicht geschändet wurden, sodass wir zur Ausgangsfrage zurückkehren: Wenn es keine sterblichen Überreste gibt, wenn es
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