K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
als kleiner Bub, die anderen waren am Spielen und er steckte die Nase immer ins Buch; die Jungs ließen die Drachen steigen und er ging zu seinem Onkel, um sich Bücher zu holen – hab ich schon von diesem Onkel erzählt, nein, nicht? Der Rubens ist mein Schwager, der Bruder meiner Frau, er war Gewerkschaftsführer; durch ihn hat mein Sohn sich das mit dem Lesen und der Politik angewöhnt; aber ich gebe dem Rubens nicht die Schuld, ich gebe niemandem die Schuld. Es ist Schicksal. Wir sind auf der Welt, um unsere Schuld abzubüßen, nicht wahr? Ich erinnere mich an meinen Jungen in der ersten Zeit auf dem Gymnasium, da hatte er sich in den Kopf gesetzt, so ’ne Schülerzeitung zu machen, große Aufregung das alles, bei der Abschlussfeier der Unterstufe hat er die Rede gehalten; er war erst vierzehn und hielt schon eine Rede; in der Oberstufe hatte er’s mit irgendwelchen Projekten von der Kirche, so einer Paulo-Freire-Bewegung, er ging in die Armenviertel und brachte den Arbeitern das Lesen bei; als Präsident Jânio Quadros abgedankt hat und der ganze Streit mit den Militärs anfing, hing er von früh bis spät am Radio. Ab dann hat ihn die Politik nicht mehr losgelassen; er gab erst Ruhe, als er an der Uni war, aber heute denk’ ich, die Ruhe war nur äußerlich, keiner sollte was merken. Der Rubens hat ihm Bescheid gesagt, als das Regiment von Caçapava schon parat stand, schon bevor das alles passiert ist, er hat gesagt, die beiden sollten vorsichtig sein. Ins Kino ging er auch gern, das machte er regelmäßig, zweimal die Woche, wenn das neue Programm rauskam, war er dabei; Fußballspiele haben ihn nicht interessiert, wenn das Gespräch auf Fußball kam, hatte er keine Meinung, nicht mal die Spieler kannte er. Er hat auch nie eine Freundin gehabt, bis zu dem Tag, als er hier mit Ihrer Tochter aufgekreuzt ist, nur wenn ich dran denke, wird mir kalt ums Herz; er kam und stellte sie vor, ziemlich ungeschickt, und sie so höflich, die Nachbarn waren richtig angetan, großartig. Manchmal sind sie auch ausgegangen, im Stadtzentrum auf dem Platz ein Eis essen oder zur Kirmes oder zum Fest des wundertätigen São Gonçalo oder zu einem anderen Volksfest, São João. Sie war nicht nur freundlich zu ihm, sondern zu der ganzen Familie, das ist die Wahrheit und ich meine es ehrlich; wenn Sie möchten, kann ich aufhören. Als diese Anzeige in der Zeitung war mit ihrem Foto, sie als verschwunden gemeldet, ist meine Tochter heimgekommen und hat’s uns gezeigt; ich musste meiner Alten einen Stuhl holen, von da an haben die Sorgen nicht mehr aufgehört, sogar die Nachbarn waren anders, es hagelte schiefe Blicke, auf einmal waren sie gegen uns, konnten uns nicht mehr leiden, hier kennen sich ja alle, das Ganze ging wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund; meine Tochter hat fast ihre Arbeitsstelle im Rathaus verloren; na ja, sie hat’s geschafft und die Leute haben sich wieder eingekriegt, aber es gibt immer noch ein paar, die lieber auf der anderen Straßenseite langgehen, da kann man nichts machen, oder? Die Leute sind, wie sie sind; meine Frau hatte sie richtig lieb gewonnen, ständig waren sie am Quatschen, auch meine Tochter, alle drei, das ist die volle Wahrheit, es gab keinen, der sie nicht mochte … Wenn Sie wollen, hör ich auf zu erzählen … Sie tratschten über alles, sogar über mich, über das Aspirin, das ich dreimal am Tag schlucke; Ihre Tochter hat gesagt, wenn ich keine Schmerzen habe, soll ich es auch nicht nehmen, sie verstand was davon, hatte studiert und so, aber mit meinen Tabletten kenn ich mich aus. Sie war genau wie er, immer ein Buch in der Hand; was jetzt aus uns werden soll, weiß ich nicht, in der Familie war er unsere Stütze, er kaufte ein, kümmerte sich um alles, brachte warme Kleider, wir haben jetzt jeden Halt verloren, so etwas dürfte nicht sein, die Kinder sollten ihre Eltern beerdigen und nicht die Eltern ihre Kinder.
Unantastbarkeit – ein Widersinn
Der Vater, der seine verschwundene Tochter sucht, fürchtet sich vor nichts. Wenn er zunächst Vorsicht walten lässt, geschieht das nicht aus Furcht, sondern weil er wie ein Blinder, verstört, sich erst einmal in dem unerwarteten Labyrinth der gegebenen Situation zu orientieren versucht. Der Anfang ist eine Lehre, er muss die Gefahr als solche einschätzen, nicht für sich selbst, denn er hat vor nichts Angst, sondern für die anderen: die Freundinnen, Nachbarn, Studienkollegen.
Am Anfang besteht ja noch Hoffnung, man denkt nicht an das
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