K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Undenkbare; wer weiß, vielleicht kann man ja unauffällig die Ausnahme erwirken. So verfahren die Instanzen, die über eine tausendjährige Erfahrung im Umgang mit den Despoten verfügen, ohne großes Gehabe, ohne anzuklagen. Allein aus diesem Grund geht der Vater, der nach seiner verschwundenen Tochter sucht, am Anfang vorsichtig vor.
Dann, nachdem viele Tage ohne Antwort ins Land gegangen sind, erhebt dieser Vater seine Stimme; seine Beklemmung verbietet jedes Flüstern, er spricht unverhohlen seine Freunde, die Freunde seiner Freunde und sogar Unbekannte an; so sondiert er das Terrain – immer noch wie ein Blinder mit seinem Stock –, versucht, die hohe, gleichgültige Mauer des Schweigens zu überwinden, die ihn daran hindert, die Wahrheit zu erfahren.
Er stößt auf die Mauer, ohne auf die Tochter zu stoßen. Bald wird er es satt haben, um Aufmerksamkeit zu betteln. Als die Tage ohne jede Nachricht zu Wochen werden, beginnt der Vater, der nach seiner verschwundenen Tochter sucht, zu schreien, hemmungslos; er wird zum Störfaktor, belästigt andere mit seinem Unglück und seinen unerfüllbaren Forderungen nach Gerechtigkeit.
Der Strudel, der die Menschen in die Tiefe zieht, dauert noch an, die Repression setzt sich erbarmungslos fort, aber der Vater, der nach seiner Tochter sucht, fürchtet sich immer weniger. Unglücklich, wenn auch ungehalten, begreift er alsdann den großen Widersinn seiner Unantastbarkeit. Jeder Einzelne kann von diesem Strudel erfasst und in die Tiefe gerissen werden oder einen Unfall erleiden und in einem Loch verwesen, nur nicht er. Ihn verschont der Repressionsapparat, auch wenn er laut seine Stimme erhebt. Ihn anzugreifen, käme einem Eingeständnis gleich, einer Vergeltung.
Er fühlt sich unantastbar. Er wendet sich an die Presse, marschiert unerschrocken mit hochgehaltenen Plakaten herum und bietet der Diktatur die Stirn, verhöhnt die Polizei; er demonstriert wie die Mütter der Plaza de Mayo, Untote, die die Lebenden in Schrecken versetzen; von einer unübertragbaren Aufgabe erfüllt, lässt er sich von nichts mehr aufhalten. Manche bedenken ihn mit ängstlichen Blicken aus den Augenwinkeln, andere bekunden Zustimmung.
Als er in einem der Schaufenster des großen Boulevards das Spiegelbild seiner selbst sieht, ein alter Mann unter anderen alten Männern und Frauen, der die vergrößerte Fotografie seiner Tochter wie eine Standarte hochhält, nimmt er bestürzt seine eigene Verwandlung wahr. Er ist nicht mehr er selbst, der Schriftsteller, der Dichter, der Jiddischlehrer, er ist kein Individuum mehr, sondern ein Symbol, eine Ikone: der Vater einer verschwundenen Regimegegnerin.
Als die Wochen zu Monaten werden, übermannt ihn die Müdigkeit und sein Eifer ist gebremst, doch er gibt nicht auf. Der Vater, der seine verschwundene Tochter sucht, gibt niemals auf. Jegliche Hoffnung hat ihn verlassen, aber er gibt nicht auf. Jetzt möchte er wissen, wie es passiert ist. Wo? Wann genau? Er muss es wissen, um seine eigene Schuld ermessen zu können. Aber sie hüllen sich in Schweigen.
Noch ein Jahr, und die Diktatur wird sich endlich im Todeskampf winden, so scheint es allen; aber es wird nicht der Kampf sein, der dem Tod vorausgeht, es wird eine schleppende, selbstkontrollierte Verwandlung sein. Der Vater, der seine verschwundene Tochter sucht, wird weiterhin die Stange mit dem vergrößerten Foto an der Spitze hochhalten, aber die zustimmenden Blicke werden seltener werden. Andere, passendere Fahnen werden geschwungen, andere Blicke geworfen. Die Ikone wird nicht mehr erforderlich sein; sie wird einfach nicht mehr ins Bild passen. Der Vater der verschwundenen Tochter wird beharrlich weitermachen, dem gemeinen Menschenverstand zum Trotz.
Einige Jahre später wird das Leben wieder normal weitergehen, so wie es bei den meisten Menschen stets der Fall gewesen ist. Alte werden sterben, Kinder geboren werden. Der Vater, der seine verschwundene Tochter gesucht hat, wird nicht mehr weitersuchen, bezwungen von der Erschöpfung und der Gleichgültigkeit. Er hält nicht mehr die Stange mit der Fotografie hoch. Er ist keine Ikone mehr. Er ist gar nichts mehr. Er ist der nutzlose Stamm eines vertrockneten Baumes.
Zwei Berichte
Bericht Agent Souza, 20. Mai 1972. Treffen des Regionalkommandos ALN/RJ. Teilgenommen haben die bereits amtsbekannten Elemente: Clemêncio (alias Clemens oder Alcides), Márcio (alias Cid), Álvaro (alias Fernando oder Mário) und ein gewisser Rodriguez, noch nicht
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