K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
hatte, bis zu diesem abgelegenen Gelände der Baixada Fluminense zu gelangen. Er erinnerte sich an die Mulattin mit dem Baby auf dem Arm, die ihm den Schrottplatz gezeigt hatte, den einzigen in der Nähe des Busbahnhofs. Nachdem man vom Tor des Lagers aus vierhundert normale Schritte in Richtung Hügel zurückgelegt hatte, gelangte man zu der Bodensenke. Dort befand sich in der Tat der Pfad und an seinem Ende der runde Granitstein, den der Journalist beschrieben hatte. Dort habe man verschwundene politische Gefangene verscharrt, so die Aussage des Journalisten. K. wunderte sich über den harten, steinigen Boden, auf dem kaum ein paar staubige, ausgeblichene Grasbüschel wuchsen. Keine Anzeichen von umgegrabenem Boden. Vielleicht war das der Auslöser für seine Entmutigung. Außerdem war es ein Fehler gewesen, niemanden zu bitten, ihn bei diesem Unterfangen zu begleiten. Wegen der ständigen Suche nach seiner Tochter mit Hilfe wichtiger Persönlichkeiten, auch im Ausland, waren die gemeinsamen Aktionen in den Hintergrund getreten, obwohl jede Familie natürlich eigene Nachforschungen anstellte, die Bekannten, die Verwandtschaft, auch die entfernteste, oder die Arbeitskollegen einspannte; das taten alle und mussten es auch tun; aber es gibt Dinge, die man nicht allein erledigt; erst als er an dem genannten Ort ankam, merkte K., wie unsinnig der Vorschlag des Journalisten gewesen war, er selbst solle vor Ort einen Bagger mieten und das Gelände umgraben lassen. Als ob es einfach wäre, ein Skelett oder mehrere auszugraben, ohne jedes handwerkliche Können und indem man alles beschädigte, ohne die Anwesenheit einer Behörde, die alles bezeugte und protokollierte, ohne einen Fachmann, ohne die OAB, die brasilianische Anwaltskammer, zu benachrichtigen; nein, so konnte man die Sache nicht handhaben. Womöglich hatte er niemals ernsthaft daran gedacht, dort zu graben; nach den vielen irreführenden Hinweisen, den ergebnislosen Suchaktionen war er bereits so stark davon abhängig, dass er nur um des Suchens willen suchte, nur um nicht die Hände in den Schoß zu legen. Wenn er allein war, untätig, durchlebte er die schlimmsten Momente; das Bild seiner Tochter tauchte so deutlich vor ihm auf, dass es wehtat; deshalb wurde er aktiv, sobald nur der kleinste Hoffnungsschimmer auftauchte – egal, wie absurd er auch schien. Das bezog sich nicht auf diesen Journalisten, der war in Ordnung, verfügte über gute Informationskanäle zur Polizei, war berühmt aufgrund seiner investigativen Reportagen; und außerdem hatte er das Szenario genau so vorgefunden, wie er es beschrieben hatte. Natürlich konnte es sich auch um die Leichen von Opfern gemeiner Verbrechen handeln und nicht um die verschwundener Regimegegner; und er wäre sicher aufgefallen, hätte er, völlig allein an diesem Ort, plötzlich einen Bagger mit dem Umgraben des Erdreichs beauftragt, ein großes Risiko. Aber es war nicht die Angst, die ihn daran hinderte, etwas zu unternehmen: ein Vater auf der Suche nach seiner verschwundenen Tochter kennt keine Angst, was passieren könnte, ist ihm egal, nach all dem, was bereits passiert ist. Nein, nicht die Angst war ausschlaggebend, sondern die Entmutigung, die mangelnde Willenskraft, er war schon erschöpft, als er angekommen war und die Stelle besichtigt hatte; und natürlich auch, weil er ganz allein war. Er musste das Komitee der Familienangehörigen unterrichten und sie müssten zusammen hinfahren und einen Entschluss fassen; das könnte er noch nachholen, es würde seiner einsamen Expedition einen Sinn verleihen, so, als habe er die Information im Voraus überprüft. Nach diesen Überlegungen fühlte er sich ruhiger. Gleich fiel ihm ein anderer Teil des Traums ein: Er befand sich in der Tiefe des Lochs, grub immer noch weiter und als er hochschaute, sah er all die Gesichter, die um das Grab herum standen, sie sahen ihn an, denn es war jetzt wie ein Grab und er dort unten und alle schauten ihn an, all seine Literatur-Freunde, die Gebrüder Cohen, Rosa Palatnik, Rechtsanwalt Lipiner, der Portugiese aus der Bäckerei, sein spanischer Nachbar und Mitinhaber des Ladens, all diese vertrauten Gesichter dort oben schauten ihn an; die vertrauten Gesichter, die Familien der Verschwundenen. Wo hatte er bloß seinen Kopf gehabt, dass er die Information nicht den anderen auf dem Angehörigentreffen mitteilte? Er ist beunruhigt, weiß nicht mehr, wie sie ihn angesehen haben: ob verärgert oder neugierig oder gleichgültig oder
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