K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
hiesigen Seite aus? Der Chef kann die Operation in die Länge ziehen, um an Namen heranzukommen, die noch nicht bekannt sind, dieser Rodriguez zum Beispiel kann die Verbindung zu anderen sein; aber natürlich kann der Chef die ganze Chose auch jetzt sofort hochgehen lassen. Die Entscheidung, auch die noch übrigen Elemente verschwinden zu lassen, ist bereits gefallen, das weiß ich ganz genau, sie passen nur den richtigen Moment ab, die Typen sind geliefert, es ist nur eine Frage der Zeit, eine dauerhafte Rebellion, hirnrissig, die kriegen doch keinen Fuß mehr auf die Erde, der totale Schwachsinn. Ja, aber was ihn selbst angeht, was wird aus ihm, nachdem das alles vorbei ist? Wenn man ihn nicht mehr braucht, kann man sich seiner entledigen. Außerdem weiß er zu viel. Wer garantiert ihm denn, dass sie nicht auch ihn verschwinden lassen? Haben sie das nicht auch mit dem Typen, den sie in die VPR, die Revolutionäre Volksfront, eingeschleust hatten, getan? Verdammt, was für eine vertrackte Situation, ich muss einen Ausweg finden. Und zu denken, dass ich mir das alles eingebrockt habe wegen einer Frau, immer diese Tussen auf den Versammlungen, und dann kommt mir plötzlich diese idiotische Laura mit dem schwer verletzten Typen in die Quere, Banküberfall, das wär der Zeitpunkt gewesen, ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Enteignung, proklamierte sie, und was geht mich das an, habt ihr mich vielleicht gefragt? Danach haben sie mir Algerien als Ausweg angeboten, sie wollten unbedingt, dass ich abhaue, sicher haben sie es mit der Angst bekommen, ich könnte auspacken, entweder ins Ausland oder in den Untergrund abtauchen; ich hätte gehen sollen, wär leicht gewesen abzuhauen, am nächsten Tag wär ich weg gewesen und fertig. Aber wer hätte sich denn vorstellen können, wohin dieser Wahnsinn führt?
Er sah sich um, er war immer noch allein in der Hundehütte, dieses Arschloch nennt uns Hunde. Er erinnerte sich an die schreckliche Nacht, als sie ihm den Fingernagel ausgerissen hatten, sie würden ihm alle zehn ziehen, einen nach dem anderen, sagten sie, bis er zustimmte, die Seite zu wechseln. Jetzt, wo sie ihn nicht mehr brauchten, was für eine Sicherheit hatte er da? Gar keine. Er würde sich nicht einfach abmurksen lassen nach all dem, was er durchgemacht hatte. Er brauchte Zeit, um einen Ausweg zu finden. Er zog das Blatt Papier mit dem Bericht aus der Schreibmaschine, knüllte es zu einer Kugel zusammen und steckte sie in den Mund; bloß gut, dass es dünne, kleine Seiten waren, von einem Notizblock; er wartete, bis sie vom Speichel durchnässt waren und begann, sie unauffällig mit den Backenzähnen zu zermalmen. Er spannte ein neues Blatt in die Maschine und begann einen anderen Bericht zu tippen:
Bericht Agent Souza, 20. Mai 1972. Treffen des Kommandos der ALN/RJ; verabredeter Treffpunkt auf der Praça Saenz Peña mit Márcio, einziger Kontakt nach der Liquidierung von Yuri. Zehn Minuten reguläre Wartezeit, ohne dass die genannte Person erscheint; Treffpunkt ein weiteres Mal fünfzehn Minuten später aufgesucht, wie es regulär vorgesehen ist, ohne dass die genannte Person erscheint. Operation abgebrochen. Erwarte Anweisungen.
Er zog das Blatt aus der Maschine, als die Tür aufging und der Chef den Raum betrat; er schluckte die Papierkugel mit einem Mal hinunter und hielt ihm den Bericht hin, während er voller Angst eine Erklärung erfand für sein hochrotes Gesicht und den Schweiß, der ihm von der Stirn lief.
Baixada Fluminense – ein Alptraum
In dieser Nacht schlief K. zum ersten Mal seit dem Verschwinden seiner Tochter tief und fest. Die Fahrt zur Baixada Fluminense hatte ihn total erschöpft. Er wachte ausgeruht auf, war aber wegen des Traums der vergangenen Nacht, eines regelrechten Alptraums, völlig durcheinander. Er empfand ihn als seine Strafe für die Dummheit am Tag davor, obwohl alles, wie es in den Träumen eben zu sein pflegt, sehr konfus war, vor allem, weil seltsame Szenen darin vorkamen, die er zu entziffern suchte. Eine fiel ihm sofort ein, er sah sie deutlich vor sich. Er grub den Boden mit einem Spaten um, und obwohl es ein ganz gewöhnlicher Spaten mit einem dünnen Blatt war, hob er bei jedem Stich eine Unmenge Erde aus, so als handle es sich um eine Baggerschaufel, sodass die Grube in kurzer Zeit tief ausgehoben war. Offenbar war der Sinn dahinter der, dass er am Tag davor die Stelle hätte umgraben sollen, es aber nicht getan hatte, obwohl es ihn viel Kraft gekostet
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