K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Später habe ich das noch ein oder zwei Male probiert. Es ist ein Spiel, das er hinnimmt, um mir gefällig zu sein. Er tut alles, um mir zu gefallen. Er versucht zu antworten, ohne zu antworten. Ich nutze es nicht aus, habe es nur diese wenigen Male versucht. Ich habe es gelernt, die Dinge zu erraten, selbst wenn er nicht antwortet, selbst wenn er sagt: »Schau, mein Mädchen, vergiss diesen Namen« oder etwas Ähnliches, dann weiß ich schon, dass das Schlimmste passiert ist. Nur ein einziges Mal zeigte er eine andere Reaktion, er sagte: »Diese Zeitungen haben doch keine Ahnung, wer weiß, vielleicht ist diese subversive Tante schon über alle Berge und hat längst einen anderen Namen«; er sagte das auf eine Art und Weise, dass ich vermutet habe, er selbst hätte das Mädchen freigelassen … als wollte er sich damit brüsten.
Bitte regen Sie sich nicht auf, wir kommen der Sache schon näher, ich erkläre Ihnen, wie die Dinge liegen, denn es ist sehr schwierig … es ist eine heikle Geschichte, Sie müssen versuchen, es zu verstehen, so wie ich es versucht habe. Vergangenen Freitag habe ich es probiert, ich ließ den Namen Ihres Sohnes fallen wie jemand, der ihn gerade in der Zeitung liest. Und was ist geschehen? Kaum hatte er ihn vernommen, wirkte er total angespannt. Ich dachte sogar, er könnte eine Dummheit machen. Da schaute er mir sehr ernst in die Augen, die Kaffeetasse verharrte in der Luft, er ließ ein paar Sekunden verstreichen wie jemand, der überlegt, was er sagen soll, oder der seine Nerven unter Kontrolle bringen möchte, ich erzähle Ihnen das alles im Einzelnen, damit Sie es nachvollziehen können, so wie ich es getan habe, und er sagte: Vergiss es, mein Mädchen, sprich diesen Namen nicht mehr aus, weder hier drinnen noch dort draußen. Nie wieder. Da habe ich verstanden. Haben Sie verstanden? Ich habe verstanden, dass er tot ist, ihn gibt es nicht mehr, er ist nicht mehr da, entschuldigen Sie, aber so ist es, Ihr Sohn ist tot, verdammt noch mal!
IV
Trinken Sie einen Schluck Wasser, ja, so. Geht es Ihnen besser? Nein, ich habe keine Kinder, aber ich weiß, was Sie fühlen, denn Zinho war für mich eher ein Sohn als ein Bruder. Deshalb habe ich alles für ihn aufs Spiel gesetzt. Ich nenne ihn Zinho, denn er war mein nenezinho, mein kleines Baby, wir sind fünf Geschwister, ich bin das einzige Mädchen, ich war zwölf, als Zinho auf die Welt kam, ein Frühchen. Die anderen waren schon alle erwachsen. Meine Mutter erlitt ein postnatales Trauma, sie vernachlässigte das Baby so stark, dass es fast gestorben wäre, und wer es gerettet hat, war ich. Meine Brüder waren schon aus dem Haus, gingen ihren Geschäften nach. Ich habe mich um Zinho gekümmert, als wär’s mein eigenes Kind. Ich habe ihn bloß nicht gestillt, weil ich noch gar keine Brüste hatte. Ich war seine Mutter, seine wahre Mutter, das ganze Leben lang. Und zu denken, dass er heute kein Wort mehr mit mir wechselt; mich zurückweist, als wäre ich eine Leprakranke. Er und die anderen ebenso. Nur meine Mutter redet mit mir. Mütter wissen, wie es ist, Mütter sind nicht wie andere Menschen. Meine Mutter weiß, dass ich Zinho zurückgeholt habe, dass ich Zinho das Leben gerettet habe, weil er von dort, wo er sich aufhielt, nicht weggekommen wäre, denn er hatte keinen Pass. Man kann sagen, dass ich seinetwegen mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt habe und er mich heute verleugnet.
V
Ob ich mir nicht habe vorstellen können, dass so etwas passiert? Ich hatte eine gewisse Ahnung, ja, wusste, dass ich einen gefährlichen Weg einschlug, von dem es kein Zurück mehr gibt. Aber ich hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. An jenem regnerischen Nachmittag, als er sich nach dem ersten Klingelton am Telefon gemeldet hat, schlug mir das Herz bis zum Halse. Mein Freund, der Anwalt, hatte mir empfohlen: Komm direkt zur Sache, ohne Umschweife. Genau das habe ich getan. Und er fragte, und wo sind Sie jetzt? Ich sagte, in einer Telefonzelle, ich war gerade im Sportstudio und jetzt bin ich in einer Telefonzelle, und er fragte: Können Sie sofort herkommen? Sehen Sie, das war eine Fangfrage, ich weiß, wie das funktioniert, denn ich bin ja Anwältin, ich habe es oft genauso gemacht. Sie testen, ob der- oder diejenige wirklich engagiert ist, ob er oder sie bereit ist, alles zu tun. Ich wusste, das war ein Test, take it or leave it, und ich hatte dieses dumpfe Gefühl, dass es sich um eine Einbahnstraße handelte, aber es gab keine Zeit
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