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Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
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besitzt und die als Leitlinien nutzt, ihnen folgt, sie kreuzt, was weiß ich. Hinter alldem steckt natürlich eine gewisse Logik …«
    Der Horchposten an der Tür warnt mit einem Zischlaut und gibt ihnen zu verstehen, dass sie den Raum wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzen sollen. Kaum ist das Bett in die Ecke zurückgeschoben, sind die Kerzen gelöscht und die Männer unter den Decken, schlurft eine Wache in die Baracke, geht die Reihen ab und zählt die Gefangenen. Als er an den Etagenpritschen vorbeikommt, auf deren oberem Bett der Lange liegen sollte, zieht der Mann unten an einer Schnur, sodass die oben liegende Puppe sich wie im Schlaf herumdreht.
    »Habt ihr gesehen, wie die Hand runtergeplumpst ist?«, fragt Craddock, sobald sie alle wieder aus den Betten und bei der Sache sind. »War nicht realistisch genug. Wir sollten sie ans Gesicht annähen: So schlafen die Leute.«
    »Oder wir probieren es mit einer zweiten Schnur, damit wir den ganzen Arm bewegen können«, wirft ein anderer Mann ein.
    Wie vom Gerede über Schnüre angespornt, holt ein dritter Soldat die Alarm-Dose aus ihrem Versteck unter dem Bett und stellt sie wieder aufs Regal.
    »Alles in Ordnung mit dir, Langer?«, flüstert Craddock laut in den Schlauch, hält sein Ohr an die Öffnung und beschließt dann: »Wir holen ihn lieber zurück.«
    Langer übergibt sich, sobald er auftaucht. Jemand geht runter, um die lose Erde einzusammeln, die in Schubladen
und Kommoden verteilt, hinter Wandverkleidungen und unter lockere Bodenbretter gestopft wird. Wochen und Monate vergehen, und Serge kommt der Gedanke, dass sie zwischen sich und der Außenwelt keine Erde entfernen, sondern sie vielmehr um sich aufschütten, dass sie sich ein - und nicht ausgraben. Wenn die Männer aus dem Tunnel kommen, müssen sie sich oft übergeben; mit der Zeit beginnen einige sich so davor zu fürchten, dass sie nicht mehr graben können. Serge zählt nicht dazu; er ist gern unten, wenn auch vor allem, weil der Tunnel der einzige Ort im ganzen Lager ist, an dem er onanieren kann. Nirgendwo sonst findet er die nötige Einsamkeit. Er fragt sich, ob es die anderen auch dort machen, fragt sich, ob das der Grund fürs Keuchen ist und ob die gemurmelten Worte, die durch den Atemschlauch nach oben dringen, Bruchstücke eines Dialogs sind, den der Gräber im Dunkel mit seiner sanften Phantasiegeliebten hält…
    Man macht ihn nie direkt mit einem Mitglied des Flüchtlingskomitees bekannt (während der Frühling in den Sommer übergeht, wird ihm klar, dass man mit »Fluchtkomitee« alle Ungenauigkeiten dieser Bezeichnung vermieden hätte); im Herbst beginnt er sogar, an der Existenz des Komitees zu zweifeln. Dessen Logik, falls überhaupt eine dahintersteckt, geht in die Irre. Tunnel enden oft direkt vor unpassierbaren Metallträgern, ein Tunnel trifft auf einen anderen, endet in einer der eigenen Schlafbaracken oder lässt, was auch schon vorkam, einen Teil des kopfsteingepflasterten Platzes einstürzen, auf dem Gefangene und Wachposten stehen. Ein Tunnel, an dem noch im November gegraben wird, soll, so will es ein in mehreren Schlafbaracken aufkommendes Gerücht, bereits unter dem Drahtverhau des Lagers hindurchführen, doch kann niemand sagen, in welcher Baracke er anfängt, wo er schließlich nach oben führt oder wer das Lager dadurch verlassen darf – Tatsachen, die Serge vermuten lassen, dass
es sich auch hier nur um einen kollektiven Tagtraum handelt. Er sollte nie herausfinden, ob er recht hat. Im Februar wird er in ein anderes Lager verlegt; bis dahin ist keinem einzigen Gefangenen die Flucht geglückt.
    Das neue Lager liegt einige Hundert Kilometer weit entfernt bei Berchtesgaden. Wieder wird er mit der Bahn hingebracht, ein Zug nach dem anderen. Die Landschaft ändert sich: Flache, von Kanälen durchkreuzte Ebenen weichen Schluchten mit perlenden, dahinstürzenden Bächen. Schafe und Kühe weiden an steilen Hängen mit scheinbar ungleich langen Beinen; anstelle von Soldatenkolonnen sieht er nun einzelne Gestalten, die gewundene Hügelpfade hinab zu kleinen Bahnhöfen eilen, da ihr Fronturlaub zu Ende ist. Die Züge beginnen gegen die Steigung anzuhecheln; sie schnaufen öfter, schneller, als gerieten sie außer Atem: durchaus möglich, denn die Luft wird dünner, auch sauberer. Serge vermisst den Qualm, den Geruch nach Öl und Teer…
    Wie sich herausstellt, liegt das neue Offizierslager etwas außerhalb von Berchtesgaden, durch einen felsigen Streifen

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