K
sind, ist nicht zu übersehen, und sie zwingen die Gefangenen, einen Teil der Rot-Kreuz-Vorräte für sie abzuzweigen, auch wenn sie wissen, dass sie nicht zu viel verlangen dürfen, da sonst überhaupt keine Pakete mehr kämen …
Nicht nur die Wachen sind hungrig. Die Stadtbewohner sammeln sich regelmäßig unter einem Schlafsaalfenster im dritten Stock mit Blick über den »freien« Teil Hammelburgs, um bei den Gefangenen um Lebensmittel zu betteln. Meist
werden ihnen Stücke vom zugeteilten Schwarzbrot hingeworfen, manchmal auch ein Stück Fleisch, das aus der Dose genommen und in Papier eingewickelt wurde. Die Dosen selbst werden nie fortgeworfen, sie sind zu kostbar.
»Warum?«, fragt Serge, als er an seinem ersten Tag im Lager eine Dose aus dem Fenster werfen will und ein Leutnant seine Hand zurückhält.
»Fürs Tunnelgraben«, sagt der Leutnant und nickt ihm zu.
»Ihr macht das hier auch?«
»Immerzu, Kamerad, immerzu: Das hält uns bei Verstand.«
Was die Zeit angeht, die sie mit Tunnelgraben verbringen, hat er nicht übertrieben – ob sie das Graben allerdings bei Verstand hält, ist eine ganz andere Frage. An Serges erstem wie auch an allen folgenden Abenden bewegen sich die Männer mit tänzerischem Geschick, sobald der Appell abgenommen und das Licht ausgemacht wurde, hängen eine Decke vor das Fenster, zünden mehrere Kerzen an, ziehen ein Bett aus der Zimmerecke, heben zwei Bodenbretter an, binden eine lange Schnur um den Fuß des jeweiligen Gräbers und schicken ihn Kopf voran ins Loch, gewappnet mit zwei leeren Dosen, mit denen er graben soll. Während der Singsang des Appells in den Schlafräumen nach und nach verklingt, sehen die Männer zu, wie die Schnur sich in die Erde ringelt – zwei Schnüre, genau genommen: Eine zweite, dünnere Schnur in der Hand des Gräbers ist nach Klingeling-Methode mit einer dritten Dose verbunden, die auf einem Regal im Zimmer steht. Sollte der Tunnel einbrechen oder der Gräber fürchten, ohnmächtig zu werden, zieht er an dieser Schnur, die Dose fällt, und seine Kameraden holen ihn zurück, mit den Füßen voran. So zumindest lautet die Theorie. Weitere Dosen, Deckel und Boden entfernt, wurden zu einem lockeren Schlauch zusammengesteckt, der in das Loch geschoben wird, so weit er eben reicht, um wie ein langer Schnorchel für Luft zu sorgen. Serge
amüsiert der Anblick der Gemüsesorten auf den Etiketten der eine nach der anderen wie ein langes Rohr in die Erde gleitenden Dosen – als schlösse sich für sie der Kreis, als kehrten sie, von allem Sand und Niederen ihrer Herkunft befreit und zu so gewichts- wie masselosen Bildern geläutert, zurück und hinab zu ihrem erdigen, materiellen Ursprung. Hackende, schabende, keuchende Laute dringen durch die Schlauchöffnung in die Schlafbaracke; manche Tunnelgräber singen leise vor sich hin oder setzen zu seltsamen, unterirdischen Monologen an, deren Sinn, falls sie denn je sinnvoll waren, durch die unterirdische Strecke, die sie zurückgelegt haben, bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird.
»Wohin führt der Tunnel«, fragt Serge eines Tages, während ein Mann, den sie alle, obwohl er eher klein ist, nur »Langer« nennen, sich unter ihnen abmüht.
»Wohin er führt?«, fragt der Barackenführer, ein Oberst namens Craddock, zurück.
»Ja, wo kommt er raus?«
»Das ist geheim. Darum kümmert sich das Flüchtlingskomitee. Die lassen jeden nur wissen, was er unbedingt wissen muss.«
»Sollte es nicht ›Fluchtkomitee‹ heißen?«, fragt Serge. »Ich meine, wenn man es genau nimmt, wird doch die Flucht vorbereitet, und Flüchtlinge sind wir erst, wenn wir bereits geflohen sind. Wenn überhaupt, sind wir also Flüchtlingsaspiranten. Und wer sind diese Mitglieder überhaupt?«
»Das ist auch geheim.«
»Sie meinen, Sie haben sie nie kennengelernt?«
»Ich bin auf dem Platz an ihnen vorbeigegangen, habe mit ihnen geredet, mit ihnen Karten gespielt und vieles mehr. Vielleicht sind ein paar von ihnen sogar hier in dieser Schlafbaracke. Ihre Identität als Mitglieder des Flüchtlingskomitees aber ist zu jedem Zeitpunkt und unter allen Umständen geheim.«
»Und woher wissen Sie dann, in welche Richtung gegraben werden soll?«
»Das wird uns über Mittelsmänner nach dem bereits angedeuteten Prinzip zugetragen, dem zufolge jeder nur erfährt, was er erfahren muss. Vom Komitee wurde alles genau geplant: Mit ist sogar zu Ohren gekommen, dass es eine Karte mit sämtlichen Gasrohren, Abwasserkanälen et cetera
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