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Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
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er.
    »Was sagt er?«, fragt Hodge.
    »Dass du keine Uniform anhast«, übersetzt Serge.
    Der verletzte Feldwebel blickt Serge an, dann zerrt er auch an seinen Kleidern. Serge ist ebenfalls in Zivil, de pied en cap .
    »Also seid ihr Spione«, brüllt der Feldwebel.
    »Was sagt er denn jetzt?«, will Hodge wissen.
    »Er sagt, wir sind Spione«, antwortet Serge. »Rein technisch gesehen stimmt das ja auch.«
    »Und was hat das zu bedeuten?«
    »Ich schätze, dass wir erschossen werden.«
    Er hat völlig recht. Nachdem man sie über Nacht in demselben Wald gefangen gehalten hat, in dem auch das Bataillon kampiert, um Wunden zu lecken, werden Hodge und er am nächsten Morgen zu einer Stelle gebracht, an der sich der Wald lichtet und der Hügel in flaches Land übergeht.
    »Ein nettes Plätzchen«, meint Serge. Sie sind gestern auf ihrem Weg durch den Forst nicht daran vorbeigekommen, obwohl sie aus der Richtung kamen, in der die Stelle liegt.
    Hodge gibt keine Antwort. Er ist weiß im Gesicht. Der Feldwebel, der sie gefangen nahm, leitet die Zeremonie. Den verwundeten Arm mit dem gesunden haltend, befiehlt er seinen Soldaten, in Reih und Glied anzutreten, steht ein wenig abseits und bellt seine Kommandos. Als die Abzugshähne
gespannt werden und sich ihr Klicken und Schleifen mit seinen Befehlen vermengt, spürt Serge ein bereits vertrautes Kribbeln im Unterleib. Er blickt auf. Die Baumstämme scheinen sich ihm in ihrer Aufwärtsbewegung leicht zuzuneigen. Die Sonne ist aufgegangen. An manchen Stellen wird das Licht von Bäumen blockiert, die lange Schatten über den Boden werfen. Ein Insekt bewegt sich im Geflecht von Zweigen und Moos, quert den riesigen geometrischen Flickenteppich aus Dreiecken und Halbkreisen, die der Wechsel von Licht und Schatten zeichnet. Einmal hält das Tier kurz inne, als wäre ihm etwas eingefallen, dann krabbelt es weiter. Als es einen Moment später seinen Weg durch einen quer liegenden Zweig versperrt findet, der in seinen Augen so monumental wie eine gefällte Eiche aussehen muss, klettert der Käfer hinauf, rutscht ab und klettert erneut hoch. Während Serge zusieht, wie das Tier etwas erklimmt, das um ein Vielfaches größer ist als es selbst, überkommt ihn ein Gefühl, als würde auch er emporgehoben: Ohne den eigenen Körper zu verlassen, kann er nun auf die Szene herabblicken. Die Anordnung der Soldaten, ihre Position in Bezug zum Rand der Lichtung, die Konturen fest aufgesetzter Füße und Beine, der Winkel, in dem sie die Gewehre an die Schultern anlegen: Irgendwie ergibt das alles einen Sinn. Es auf diese Weise zu sehen, wie von oben, die Linien und Vektoren zu erfassen, die vertikalen und horizontalen Achsen, und es zugleich vom einzigen Ort her wahrzunehmen, von dem aus er es sehen kann, der Stelle nämlich, an der er steht, bereitet ihm Hand in Hand mit dem Eindruck des Aufsteigens das ebenso schwindelerregende wie angenehme Gefühl zu fallen. Es geht nicht allein um ihn; alles scheint in diesem Augenblick zurückzufallen, sogar der Himmel. Eine Bö bläst herab, raschelt durch die Bäume. Und aus diesem statischen Rauschen dringt ein klares Signal, eine vertraute Frage: »Kennscht mi noch?«

    Diesmal murmelt Serge die Worte selbst, lässt sie widerhallen, als wäre er eine Art Lautsprecher, ein hohler Resonanzkörper. Und während er spricht, wird ihm die Bedeutung klar; er weiß genau, was er sagt. Die Frage, wer »mi« ist oder worauf sich das »noch« bezieht, quält ihn nicht länger: Das versprengte, äußerliche »mi«, zuvor in der Luft gefangen, in ihrer Körnigkeit, ihrer Textur, hat sich dem Inneren angeschlossen, und vereint dehnt es sich aus, wird ein allgemeiner Zustand, bis »mi« für jeden Namen in der Geschichte steht; und alle Zeiten haben sich zum Jetzt vereint. Alles ergibt einen Sinn. Er hat diese Konjunktion gemieden, hat sich ihr langsam auf einer Reihe von Umwegen genähert, die jahrelang – vielleicht sein Leben lang – wie die Verknüpfungen eines komplexen Diagramms dahinkurvten und -mäanderten, doch nun hat diese Konjunktion, des Wartens müde, ihre Erfüllung, ihren Weg zu ihm gefunden: Sie rast auf ihn zu entlang der Linie, auf der gleich, jeden Moment nun, die Kugeln geflogen kommen. Und während Serge darauf wartet, dass der Feldwebel das Kommando gibt, ist er selig.
    Die Soldaten warten ebenfalls auf sein Kommando, so unbeweglich, als wäre die Zeit stehen geblieben oder derart in sich aufgegangen, dass sie ihre eigenen Grenzen durchbricht

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