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Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
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aneinander schmiegen und reiben. Die Wachen, die den eingezäunten Teil der Stadt sichern, sind alte Männer, schäbig gekleidet und etwas wirr im Kopf. Einige hinken, einem fehlt ein Auge. Auf demselben Platz, wenn auch auf der anderen Seite des Drahtverhaus, werden den ganzen Tag Rekruten gedrillt. Treten die Gefangenen draußen zum Appell an, sehen die Rekruten besorgt herüber, als wollten sie einen Blick auf das erhaschen, was sie womöglich erwartet. Serge versucht jedes Mal zu lächeln, wenn sich seine Blicke mit denen eines Rekruten kreuzen, als wollte er ihm versichern, dass es so schlimm gar nicht ist – bis er darauf kommt, dass die Angst in ihren Gesichtern womöglich nichts mit dem Feind zu tun hat, sondern mit den eigenen Veteranen: Allein der Gedanke, dass sie so enden könnten wie die da …
    Appell findet rund um die Uhr statt: auf dem Platz, in den Schlafräumen, routinemäßig als Erstes am Morgen, ohne Vorwarnung mitten in der Nacht. Wenn die Gefangenen nicht strammstehen, faulenzen sie, spielen Bridge, besuchen (oder halten) einen Vortrag über eine Vielzahl von Themen aus Geschichte und Medizin bis hin zu Religion, oder sie lernen
Französisch, Deutsch oder Latein. Serge schreibt sich in Moretons Kurs für Probleme der Philosophie ein.
    »Die Geschichte dessen, was wir unter Willensfreiheit verstehen, hängt von der Grundfrage des Determinismus ab: Sind Ereignisse vorherbestimmt – von Gott, unseren Zellen oder einem unsichtbaren Mechanismus, der den Lauf der Geschichte vorgibt? Und wenn sie es sind, steht es uns dann dennoch frei zu wählen, was wir sowieso zu tun bestimmt sind – in vollem Wissen um die Implikationen, in vollem Verständnis der Folgen? Hume war dieser Ansicht und sprach diese Freiheit jedem zu, der ›kein Gefangener in Ketten‹ ist.«
    »Da sind wir in unserer Lage wohl ziemlich angeschmiert, wie?«, fragt Serge.
    »Nicht unbedingt«, antwortet Moreton und schiebt sich die Brille den Nasenrücken hoch, »nicht unbedingt. Um dies Problem zu umgehen, brauchen wir nur einen Blick auf die philosophischen Traditionen unserer Gastgeber zu werfen. An Schopenhauer anschließend, hat Rudolf Steiner kürzlich behauptet, dass wir frei sind, wenn es uns gelingt, die Kluft zwischen unseren sinnlichen Eindrücken von der Außenwelt einerseits und unseren eigenen Gedanken andererseits zu überbrücken.«
    »Also brauche ich nur an Stacheldrahtverhaue zu denken, und schon bin ich frei?«
    Er kräuselt die Nase, als ihm die Brille wieder herabrutscht. »Nun, ich schätze, wenn Sie es so ausdrücken wollen: Ja.«
    Den Männern im Offizierslager steht es eindeutig frei, sich anzustellen – für Essen, Post, frische Wäsche, Medizin, für fast alles. Warteschlangen entstehen im Lager schon aus geringstem Anlass. Vor lauter Langeweile überredet Serge eines Tages zwei Piloten, mit ihm aus Jux und Dollerei vor einer Tür zum Kohlenkeller anzustehen: Innerhalb von fünf Minuten haben sich zwanzig Männer hinter ihnen versammelt, ohne auch
nur zu fragen, wofür sie sich da einreihen. Von den Essenswarteschlangen gibt es zwei Sorten: eine, in der man auf das Lageressen wartet, das an alle Gefangenen ausgeteilt wird, und eine für die Lebensmittel, die mit Rot-Kreuz-Paketen an einzelne Insassen geschickt und mit den Landsleuten des Empfängers geteilt werden. Die Franzosen sind am besten dran. Ihre Tische biegen sich unter eingelegtem Thunfisch, kaltem Hühnchen, Gänseleberpastete, Erbsen und Schinken, alles in Dosen. Die Russen essen am schlechtesten. Allein von getrocknetem Fisch gestärkt, wenden sie viel Zeit und Energie dafür auf, eine Kapelle mit improvisierter Innenausstattung zu bauen. Serge besucht sie eines Tages und stellt fest, dass sie aus Holzsplittern und Tuchresten Ikonen angefertigt und dabei mithilfe von Erde, Harz, Wachs und Blut ausgemergelte Heilige mit kummervollen Gesichtern fabriziert haben, die den Blick gen Himmel richten, als flehten sie ihn um Erlösung oder zumindest doch um eine Erklärung dafür an, warum sie in dieser misslichen Lage stecken. Die Engländer liegen irgendwo dazwischen. Sie bekommen Dosen mit Zunge, Schweineschulter und Schweinekopfsülze, dicken Bohnen und gelegentlich auch einem Plumpudding zugeschickt. Alle Gefangenen aber essen besser als ihre Bewacher, die allein mit dem Fraß auskommen müssen, den sie ihnen servieren: Rübeneintopf, Pferdefleischbrühe, zerlaufenen Käse und neun Zehntel von einem Laib Schwarzbrot pro Woche. Dass sie hungrig

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