K
dann folgt ein S. Eine Weile hält die Hand inne.
»Mors, das heißt auf Französisch doch stirbt, oder nicht?«, murmelt jemand hinter Serge.
»Stimmt das?«, flüstert ihm Audrey ins Ohr.
Mit immer noch kribbelndem Rücken schüttelt Serge den Kopf. Stirbt heißt meurt. Mors ist das Gebiss. Er denkt an die Vögel im Wald, die er nach dem Absturz gesehen hat, an die grauen Krumen, diesen fleischigen Imbiss, den sie alle im Schnabel hielten. Zuckend beginnt Miss Dobais Hand sich erneut zu bewegen und malt diesmal ein E.
»War er Telegraphist?«, ruft jemand.
Die Frage bleibt unbeantwortet, da die Hand zwei weitere Buchstaben malt, ein N und ein T.
»Tilly?«, fragt die Sekretärin. »Ich habe hier MORSENT stehen. Soll das heißen, man hat noch mehr Männer geschickt, um ihn vor dem Ersticken zu retten?«
Ihre letzten Worte gehen jedoch in einem lauten Keuchen unter, mit dem ein weiteres Paar aufspringt, zwei Leute, die sich auch schon erhoben hatten, als Miss Dobai eingangs von Photos redete.
»Wir sind gemeint!«, rufen sie. »Wir heißen Morsent. Die Photographie kam letzte Woche.«
Wieder kommt Tillys Stimme aus Miss Dobais Mund: »Photo-Graphie, genau. Er ist in der vorderen Reihe, vor dem Stockmann: Raifle.«
»Oh, Matthew, sie meint unseren Ralph!«, kreischt die Frau und umarmt ihren Mann. Sie spricht seinen Namen Rafi aus. »Es stimmt: Auf dem Photo steht hinter ihm ein Mann mit einem Stock!«, fügt sie noch fürs Publikum erklärend hinzu. Dann wendet sie sich an Miss Dobai, ändert aber ihre Haltung ein wenig und zielt eher in die Luft über dem Medium: »Ralph? Geht es dir jetzt gut?«
»Ach, Raifle ist so zufrieden, wie man nur sein kann«, erwidert Tilly. »Er hat ein Haus, ganz aus Ziegeln erbaut, und
da gibt es Bäume und Blumen; die Erde ist fest, nirgendwo Schlamm, und er hat ein Mädchen kennengelernt.«
»Was denn für ein Mädchen?«, fragt die Mutter.
»Als er herkam, war Ralph nicht besonders nett zu ihr«, sagt Tilly kichernd. »Hat wohl nicht erwartet, hier eine erwachsene Schwester zu treffen. Bin ich ihr ein kleiner Bruder, oder ist sie meine kleine Schwester?, hat er mich gefragt. Sie nennt mich ihren großen Bruder, und sie ist wie meine kleine Schwester. Was ist das, Yafe? Du kannst nicht beide haben. Das versteht Tilly jetzt nicht.«
»Können Sie ihn fragen« – der Vater übernimmt nun die Rolle des Fragenstellers –, »ob ihm etwas fehlt?«
Miss Dobais Kopf wippt ein wenig auf und ab, als suchte sie Ralph erst oben, dann unten. »Sie meinen, ob er Beine hat und einen Kopf?«, fragt Tilly und antwortet fast sofort: »Aber ja, ja! Und Ohren, Augenlider, Augenbrauen, ganz wie vorher, auch Mund und Zunge. Ist alles wieder zu-, zu-, zusammengesetzt.«
»Und das Haus?«, setzt der Vater sein Verhör fort. »Wenn das aus Ziegeln ist, woraus sind dann die Ziegel?«
»Aus Emma«, beginnt Tilly, »aus Emma …«
»Ist noch jemand bei dir?«, wirft die Sekretärin ein.
»Emma-nationen.« Tilly bringt das Wort nur mit Mühe über die Lippen. »Raifle sagt, Dinge steigen auf, Atome, und die konso-, konso-, konsolidieren, wenn sie hier oben sind. Wir sammeln sie und machen wieder Festes aus Flüchtigem. Von eurer Ebene steigt immer was auf. Kommt es durch den Äther, nimmt jedes Atom neue Eigenschaften an, und unsere Leute bauen daraus was Solides.«
Jetzt steht ein Mann links im Saal auf: »Ich habe eine Frage«, sagt er. »Wenn ihr die Atome von Lebendigem braucht, um die Leute wieder zusammenzusetzen, warum verschwindet dann nichts aus unserer Welt?«
»Ach, eure Welt wirft ständig ein wenig Last ab«, antwortet Tilly. »Sie selbst verlieren gerade in diesem Moment Masse, von der ich und die anderen hier uns was leihen, um Ihnen erscheinen zu können.«
Die Leute im Publikum blicken an sich herab. Serge richtet sich auf und prüft, ob er sich leichter fühlt. Seltsamerweise tut er das.
Tilly fährt fort: »Und denken Sie an all die Dinge, die sterben und vergehen. Nichts davon ist verloren. Totes mag zu Staub oder Dung vergehen, doch gibt es derweil eine Essenz von sich, ein Gas, das in einer Form aufsteigt, die Sie ›Geruch‹ nennen. Alles Tote hat einen Geruch. Den nutzen wir, um Duplikate der Form herzustellen, die Lebendes hatte, ehe es zum Geruch wurde. So werden verwelkte Blumen zu frischen Blumen, verschlissene Wolle wird zu neuem Tweed, Dung zu Essbarem…«
Im Laufe dieses kleinen Vortrags heben sich Tillys Sprachniveau und ihre Stimme, als mehrten sich
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