K
habitués: Sie treten selbstbewusst auf und schauen nach links und rechts, um zu sehen, wer außer ihnen noch von den Stammgästen anwesend ist. Serge wirft einen Blick auf die oberste Broschüre der kleinen Sammlung, die er in der Hand hält. Darin findet sich eine kurze Lebensbeschreibung von Miss Ann Flannery Dobai, dem Medium des heutigen Abends. Geboren in Baltimore als Tochter einfacher Einwanderer, so liest er, hat sie wie ihre fünf Geschwister die Kindheit mit dem Vater verbracht und ist mit ihm, einem Eisenbahner, von Stadt zu Stadt gezogen. Durch einen Zufall wurde 1884 dann ihre Gabe in Kenosha in Wisconsin entdeckt:
Bei einer Begegnung mit einer Gesellschaft von Varietékünstlern fiel die junge Ann in Trance und zählte ziemlich präzise die Namen von den Großvätern mütterlicherseits aller Anwesenden auf. Kurz darauf führte sie im gesamten amerikanischen Mittelwesten bereits Apports und Materialisationen aus. Als man jenseits des Atlantiks von ihren psychischen Kräften erfuhr, wurde sie in die Hauptstädte Europas eingeladen und erhielt Privataudienzen beim österreichischen Kaiser, dem italienischen König sowie zahlreichen Staatsoberhäuptern. Als ihr nach der Heimkehr übelwollende Skeptiker zusetzten, beschloss sie, ihre
Gabe ein weiteres Mal den aufgeschlosseneren Menschen der Alten Welt zur Verfügung zu stellen…
Auf den beiden Zetteln darunter stehen diverse Hymnen.
»Wofür sind die?«, will Serge wissen.
»Die bringen die Luft zum Schwingen«, sagt Audrey und nickt einem Mann mit Schlapphut zu, der etwas weiter vorne sitzt. »Er ist immer da«, erzählt sie Serge.
Am anderen Ende des Saals öffnet sich eine Tür; ein Mann tritt heraus, geht auf die Bühne und stellt sich neben den Stuhl auf der rechten Bühnenseite. Sobald er zu sprechen beginnt, verstummt das Publikum.
»Meine Damen und Herren – und ganz besonders Sie, liebe Freunde«, hebt er an, »Miss Dobai wird nun jeden Augenblick mit der Sitzung beginnen.« Er redet mit englischem, nicht mit amerikanischem Akzent. Als er fortfährt, wandert sein Blick durch den Saal: »Ich entdecke eine Reihe vertrauter Gesichter – doch lassen Sie mich jenen, die heute Abend zum ersten Mal hier sind, kurz das außergewöhnliche Prozedere erklären, dem wir uns gemeinsam unterziehen wollen. Miss Dobai wird – mit Ihrer Hilfe – zu Beginn Kontakt mit einer Kontrollpersönlichkeit herstellen und das nachfolgende Gespräch dann mit ihren eigenen Stimmbändern kanalisieren. Sobald der Kontakt hergestellt wurde, steht es Ihnen frei, Fragen an die Kontrollpersönlichkeit zu richten: Schließlich sind Sie es, mit dem er oder sie zu sprechen wünscht.«
Er schweigt, während sein Blick auf einzelnen Leuten im Publikum ruht, als wolle er dieser Möglichkeit Nachdruck verleihen, um dann fortzufahren: »Wie Sie sich denken können, ist dieses Prozedere überaus anstrengend und verlangt Miss Dobai ein enormes Maß an physischer wie mentaler Energie ab.«
»Prozedere«, murmelt Serge zu Audrey. »Klingt ja wie eine Operation.«
»Ein bisschen mehr Ernst, bitte«, zischt sie zurück.
Der Mann auf der Bühne fährt fort: »Wenn Miss Dobais Stimmbänder erschöpft sind, wird sie Ihre Kontrollpersönlichkeit bitten, die Kommunikation mittels der Tischrückmethode fortsetzen zu dürfen.«
»Was soll das denn sein?«, fragt Serge.
»Wirst du schon sehen«, antwortet Audrey.
»Miss Dobai«, fährt der Leiter des Abends fort, »kommt nun jeden Moment zu Ihnen, doch ließ sie mich wissen, dass es ihrem Wunsch entspräche, wenn wir vorab die ersten beiden Strophen der Hymne Abide with Me singen, deren Text Ihnen eingangs gereicht wurde.«
Allgemeines Papiergeraschel, dann beginnt das Publikum zu singen. Als die Seitentür ein weiteres Mal aufgeht und eine Frau hereinkommt, um am Sitzungsleiter vorbeizugleiten und ihren Platz am Tisch einzunehmen, gerät der Gesang ins Stocken. Miss Dobai ist eine Frau mittleren Alters, ihre Bluse – rot wie beiderseits der Vorhang – tief ausgeschnitten, das Haar zu einem Knoten hochgesteckt; Rouge bedeckt ihre Wangen. Serge hört auf zu singen und meint, in der Luft um diese Frau Bahnhöfe aufflackern zu sehen, Zirkuswagen und europäische Paläste. Als das Lied endet, greifen ihre Hände ineinander; der Sitzungsleiter imitiert die Geste und hält die derart geschlossenen Hände auffordernd dem Publikum hin, woraufhin man sich zaghaft nach links und rechts wendet und nach den Händen der jeweiligen Nachbarn
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