K
empor, dank einer ungeheuren Anstrengung, Millimeter um Millimeter. Ein Fenster zerbricht wie in Zeitlupe; er sieht jedes gläserne Bruchstück sich aus der Scheibe lösen. Es kracht nicht, klirrt nicht; es ist überhaupt kein Laut zu hören. Serge will Sophie fragen, wie sie ihr Haar so aufrichten kann, merkt aber, dass seine Worte, statt in die Luft zu entweichen, ihm zurück in den Mund und hinab in den Magen gestopft werden. Klang und Tempo kehren zurück, erst als rückstürzender Luftschwall, dann schält sich daraus ein hohes Summen hervor, das offenbar schon einige Zeit andauert, ihm aber erst
jetzt bewusst wird. Sophie starrt noch immer zu ihm hinüber. Ihr Haar ist wirr, der Blick wild. Ein Keuchen entweicht ihrem Mund, gleich darauf noch einmal derselbe Laut, dann ein Freudenschrei. Sie ruft ihm etwas zu.
»Was?«, schreit er zurück. Das Summen dröhnt ihm in den Ohren.
»Expl... «, beginnt sie, aber im selben Moment übergibt er sich. Die Kotze ist rot, mit salzigen, sprudligen Silberstreifen vom selben Farbton wie die Pottasche durchsetzt. Sophie mustert den Auswurf, dann ihn, dann schreit sie wieder, und die Schultern beben, als der Schrei in ein schluchzendes Gelächter übergeht, das ihren ganzen Körper schüttelt.
Ihr Vater stellt später die Vermutung an, dass es zu dieser heftigen Explosion nur kommen konnte, weil es eine Verunreinigung im Becher gegeben habe. Er mutmaßt des Weiteren, die extreme Nähe zum Detonationsherd habe Serge und Sophie vor größerem Schaden bewahrt: Hätten sie nur einen Meter weiter entfernt gestanden, hätte die Wucht der sich schlagartig ausdehnenden Luft sie töten oder ihnen doch zumindest schwere Verletzungen zufügen können. Er zeichnet Diagramme mit den sich im Raum ausbreitenden Vektoren der Explosion – Tisch zu Werktisch, zum Regal, zum Fenster – und probiert mehrere Tage lang, die genaue Zusammensetzung des von seinen Kindern ungewollt angerührten Gemischs zu ermitteln. Serge und Sophie verbringen ihrerseits mehrere Wochen und Monate mit dem Versuch, eine vergleichbare Explosion zu wiederholen. In der Wahl ihrer Mittel sind sie einfallsreicher als ihr Vater – bringen wahllos Substanzen zusammen, erhitzen sie, kühlen sie ab, mischen sie erneut –, haben aber ebenso wenig Erfolg. Nie gelingt ihnen mehr als ein belangloses Zisch, ein leises Wuuusch, unbefriedigende Placebos.
4
I
Sophie und Serge werden gemeinsam unterrichtet. Mr Clair, ihr Lehrer, schimmernd glatt rasiert und mit Adlernase im scharf geschnittenen Gesicht, setzt beim Diktat eine Stahlbrille auf; seine Blicke huschen vom Papier zu den Kindern.
»›Amund-sens letztem Unterneh-men, der Suche nach der Nord-west-pas-sage, war kläg-lich wenig Glück beschieden. Jene, denen an der Er-kundung der Erde liegt, können nur hoffen, dass seine gegen-wärtige Reise zu den anti-podischen Regionen günstiger verläuft. Für all die aber, deren tägliche Streif-züge kaum über den Rand der Elendsviertel von Manchester oder Glas-gow hinausführen, dürfte dies nicht weiter von Belang sein. Auch die anstehende Krö-nung wird den Armen wohl nicht mehr Brot auf den Tisch bringen.‹«
Worte wie »antipodischen« oder »Glasgow« bereiten Serge Mühe, selbst solche wie »Tisch«. Ständig vertauscht er die Buchstaben. Das macht er nicht mit Absicht; es passiert einfach. Er sieht Buchstaben durch die Luft wirbeln, gleich haufenweise, von Strömen getragen, die einem Bereich unmittelbar unterhalb der Verständnisschwelle angehören, und er versucht, sie aus der Luft zu pflücken und auf die Seite zu bannen, doch bleibt das ein höchst ungenaues Unterfangen. Bis er endlich einiger Buchstaben habhaft geworden ist, sind ihm die übrigen entschwebt, oder sie haben ihre Bedeutung geändert, und aus »Streifzüge« wurden alte Dampfloks, aus
geographischen »Regionen« römische »Legionen«. Sophie dagegen schreibt ordentlich und fleißig alles nieder, stets fehlerlos, hält jedes Wort fest, sobald es Mr Clairs Lippen verlässt, während Serge, der sich noch am Nachglühen des Gehörten wärmt, meist nach einigen Zeilen aufgibt und sich von Wörtern umwogen lässt, sich an ihre hellen, lebendigen Formen und Gestalten vor Clairs grauer Haut verliert.
Als Mr Clair im Hause Versoie eintraf, packte er als eines der ersten Dinge neben den Büchern von Autoren wie Morris, Bastiat und Weber ein Bild aus, das er sorgsam an die Wand seines kleinen Zimmers hängte. Auf Nachfragen von Serge und Sophie, die so
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