K
zuckt die Achseln. »Diese Lilien«, fährt sie in ihrem Unterricht fort, sobald sie vor dem dunkelbraunen Blütenmeer stehen, »heißen Sun Gods . Hier …« – sie gräbt mit der Hand und schaufelt und scharrt Erde beiseite, um die Zwiebel freizulegen –, »dieses runde, scheibenförmige Ding ist der Zwiebelkuchen. Oben haben wir die Blüten: drei äußere Kelchblätter, drei innere Blütenblätter.« Während ihre Finger behutsam die Blütenteile trennen, schaut Serge auf den Dreck unter ihren Fingernägeln, kräftige, dunkle Halbmonde
auf fahlweißer Haut. »Sechs Staubbeutel und eine dreilappige Narbe.« Sie streichelt über das Staubgefäß, fährt mit dem Finger daran entlang bis ans Ende, wo weiße Griffel wie Antennen aufragen. »Diese hier blüht in der siebten Generation, gezogen aus einer einzigen Urblume.«
»Die kann gar nicht von einer einzigen Blume sein«, widerspricht Clair. »Man braucht zwei Pflanzen, um eine Babyblume zu zeugen.«
»Bei Lilien nicht«, korrigiert ihn Sophie. »Die können sich selbst befruchten. Und ihre Nachkommen befruchten sich dann gegenseitig.«
»Endogamie«, höhnt Clair. »Die Perversion der Königshäuser.«
»Was ist Ännogammie?«, fragt Serge.
»Du bist so schlimm wie Mama«, sagt Sophie.
»Nein, bin ich nicht«, faucht er zurück. Sie schnipst Erdkrumen in seine Richtung.
»Ich glaube, diese Unterhaltung hat lang genug gedauert«, sagt Mr Clair. »Zurück ins Klassenzimmer.«
Ihr Lehrer hat nichts gegen Spiele. Laut Lehrplan ist sogar jede Woche eine »ludische Stunde« vorgesehen. Als einige Monate nach seiner Ankunft ein Paket aus London via Lydium eintrifft, packt er es aufgeregt aus und präsentiert ihnen das Maklerspiel, in dessen Verlauf die Spieler Objekt-Avatare (ein Auto, ein Schiff, einen Hund) über Plätze und Straßen bewegen, die nach dem Stadtplan von Chicago angeordnet sind. Dabei müssen sie danach trachten, ihren Reichtum und Einfluss zu mehren.
»Halt! Das gehört mir. Du schuldest mir hundert Dollar!«, ruft Sophie schadenfroh, als Serges längst fast mittelloser Köter auf ihr Territorium vordringt. Irgendwie gelingt es Sophie immer, die besten Straßen zu ergattern, weshalb für Serge bloß minderwertige Immobilien übrig bleiben: Knausergasse,
Mickerweg und Ähnliches mehr – nur die Klingeling-Telephongesellschaft, die will er jedes Mal kaufen, auch wenn sie wenig einbringt, denn ihn fasziniert der Gedanke an summende Drähte, brummende Schaltschränke, an Verbindungen und Verkettungen.
»Öffentlicher Nahverkehr sollte umsonst sein«, erklärt Clair, während er Serge einen Hunderter leiht. »Und Zinsen nehme ich auch nicht: Schließlich brauche ich kein Pfund von deinem Fleisch, um unsere Abmachung zu besiegeln. Ich will nur hoffen, dass euch dieses Spiel mit allem Nachdruck die schreienden Ungerechtigkeiten des Kapitalismus deutlich macht.«
Macht es nicht: Sie lieben es. In ihrer Freizeit und am Wochenende spielen sie Extrarunden. An einem warmen Sommerabend beschließen sie, draußen zu spielen, merken aber, dass das Brett nicht flach auf dem Maulbeerrasen liegen bleiben will, und da ihnen der Plan mittlerweile so vertraut ist, dass sie ihn nicht länger vor Augen zu haben brauchen, benennen sie einzelne Stellen im Garten nach den Straßen und Plätzen des Spiels – die zweite Bank im Krypta-Park wird so zur Georgestraße, die Bienenkörbe werden zu Soakums Lampenhaus und so weiter. Im Spiel bewegen sie sich nun realiter von einem Ort zum nächsten. Um die Anzahl der Plätze festzustellen, die sie beim nächsten Zug vorrücken müssen, werfen sie eine Handvoll Maulbeerblätter in die Luft und zählen, wie viele in den Kreis fallen, den sie mit einem Springseil auf den Rasen rund um den Werfer ausgelegt haben. Während die Freiluftversion nach und nach das Original ablöst, werden die Regeln ergänzt und modifiziert: Sollten sich zwei Spieler zur selben Zeit im Irrgarten befinden, darf einer den anderen zu einem »Rollduell« herausfordern, bei dem zwei Tennisbälle von Hand die Pfade des Irrgartens entlanggerollt werden. Das Ziel der Spieler besteht darin, den Ball des anderen
aus dem Labyrinth zu kicken, woraufhin der Gewinner vom Verlierer ein Grundstück seiner oder ihrer (meist ihrer) Wahl beschlagnahmen darf. Und sollte ein Spieler die Platzmiete nicht aufbringen können, wenn er neben den Bienenkörben steht, kann er oder sie (meist er) statt zu zahlen auch eine Hand in einen Korb stecken und eine halbe Minute lang
Weitere Kostenlose Bücher