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alle Stiche erdulden – eine volle Minute, falls die Miete mehr als fünfhundert Dollar beträgt. Anfangs geht es mit dem Spiel nur langsam voran, da beide Spieler bei jedem Zug zur Stellung des Gegners laufen müssen, um darauf zu achten, dass beim Zählen der Maulbeerblätter nicht geschummelt wird. Nach einer Weile aber kommt Serge auf die Idee, die Klingeling-Telephongesellschaft Wirklichkeit werden zu lassen; und mittels einiger Stangen, die helfen, Gartenmauern zu überqueren und Hecken zu umgehen, wird nebst Sprachrohren und -hörern aus Suppendosen ein einfaches Netz aus Leitungen gelegt, das es ihnen gestattet, die jeweilige Position und das Ergebnis eines jeden Maulbeerblattwurfs direkt mitteilen zu können, wobei sie aus irgendeinem Grund darauf vertrauen, dass sie die Wahrheit hören, wenn sie ihnen in Echtzeit übermittelt wird. Das Netz kann nicht über das ganze Anwesen ausgedehnt werden; sie müssen deshalb zu Sprech-Hör-Zellen gehen, die eigentlich so nahe beieinanderliegen, dass man sich auch einfach zurufen könnte. Um aber die Illusion von Telekommunikation nicht zu zerstören, unterhalten sie sich mit gedämpften Stimmen, flüstern fast. Nach einigen Tagen verbringen sie ganze Spielrunden damit, nicht mehr von Stelle zu Stelle zu trotten, sondern in ihren Telezellen sitzen zu bleiben, leise die jeweiligen Positionen abzustimmen und die Nebenklauseln jeden imaginären Spielzugs zu verhandeln …
Wieder und wieder fühlen sie sich zur Mansarde hingezogen. An regnerischen Tagen spielen sie an ihrem Fenster die hofweite Version des Maklerspiels und schicken imaginäre
Doppelgänger vom Park in den Garten, von der Allee zum Weg, zum Rasen. Unterdessen machen sie sich auch am Archiv ihres Vaters zu schaffen. Er besitzt haufenweise alte Aufnahmen: lampenrußgeschwärzte, gläserne Phonautographenscheiben und Papierrollen mit Kratzspuren, die aus tauben Körpern stöhnende Stimmen hinterlassen haben, ehe sie beide geboren wurden; Zinkplatten, hergestellt in den letzten Jahren des vorigen und den ersten dieses Jahrhunderts, kommen Serge wie die exotischen Münzen einer längst aus dem Verkehr gezogenen Währung vor – kleine, runde Inseln arretierter Zeit. Die Oberfläche der Zinkscheibe riecht leicht nach Bienenwachs, ein Geruch, der von dem nach einer scharfen Chemikalie überlagert wird. (»Chromsäure«, erklärt Sophie, als sie sieht, wie er die Nase rümpft. »Ich habe davon ein ganzes Fläschchen in meinem Labor.«) Die Zylinder, die sie daneben liegen sehen, sind gänzlich aus Wachs geformt: solide, braune Walzen, deren glatte Hartgussform ein Netz von Gravuren verunstaltet – seltsame, engmaschige Graffiti. Dank eines alten Edison-Phonographen, der daneben Staub ansammelt, können Sophie und Serge die Walzen abspielen. Wahllos suchen sie Aufnahmen heraus (manche werden in etikettierten Kartonröhren aufbewahrt, andere liegen einfach unbeschriftet herum), stecken die Walze auf die Trägerspindel und warten darauf, dass der Ton herauströpfelt. Auf den meisten Wachszylindern sind Buchstabenfolgen zu hören, laut ausgesprochen und mehrfach wiederholt: »B. B-ee. B-b-b-b-ee. T. T-ee. T-t-t-t-ee. S-s-s-s-s, S-s-s-s-s. B-ee … «
Diese Stimmen von Tagesschülern (längst Ehemalige) bringen einen unterschiedlichen Grad von Entstelltheit und Atonalität zu Gehör; beim Aussprechen verzerren und verformen sich die Buchstaben. Sie folgen gewissen Rhythmen, zeigen Wiederholungsmuster, auch halbe Wiederholungen, doch gerade dann, wenn man glaubt, ihre Reihenfolge gehorche einer gewissen
Logik, brechen sie aus, geben jede Gesetzmäßigkeit auf. Serge und Sophie machen es sich zur Gewohnheit, diese Aufnahmen aufzulegen, sooft sie in der Mansarde sind, ein mechanischer Hintergrundgesang zu ihren diversen Eskapaden dort oben. Manchmal spielen sie auf einem neueren Berliner Grammophon keine Walzen, sondern Scheiben ab: Demonstrationsplatten, die ihr Vater pressen ließ, um vorführen zu können, dass es seinen Schülern gelang, ganze Redewendungen zu formulieren oder vollständige Unterhaltungen zu führen. Sobald sie die Scheibe behutsam auf den Plattenteller gelegt und den Apparat mit der Berliner Kurbel aufgezogen haben, setzen sie die Nadel in die schmale Rille mit der Gewissenhaftigkeit des Chirurgen, der das Skalpell erneut an einen bei früherer Gelegenheit gemachten Einschnitt ansetzt, und widmen sich dann ihren Aufgaben, während wahllose Dialoge (Musterunterhaltungen zwischen kindlichen
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