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schließlich einen schweren Wälzer hervor: Spielbuch der Wissenschaften . Für Knaben . Sie nimmt ihm auch das aus der Hand. Während er zurück auf den Boden klettert, öffnet sie den Kastendeckel, blättert dann im Buch und sucht nach einem passenden Experiment. Ein beinahe habsüchtiger Blick huscht vom Buch zu den Gläsern mit bunten Flüssigkeiten. Serge kniet neben ihr auf dem Stuhl und schielt ihr über die Schulter. In der modrigen Werkstatt riecht ihr Haar frisch und intensiv.
»Schwefel«, sagt sie. »Ja, haben wir. Pottasche … ja. Kaliumnitrat?« Mit dem Finger fährt sie die Reihe Korken entlang, als übte sie ein Glockenspiel. Serge spürt eine chemische Reaktion in seinem Magen, eine Art sprudelndes Vermengen und Aufquellen von Säften und Elementen. »Na schön«, verkündet Sophie. »Machen wir das hier. Lies mir die Anleitung vor. Seite vierundachtzig.«
Sie schiebt ihm das Buch hin und beginnt, Tuben, Flaschen, Retorten und einen Gasbrenner bereitzustellen. Eingeprägt auf dem Einband des Spielbuchs ist eine Blumenpyramide zu sehen. Serge schlägt die ersten Seiten auf und überblättert »Eigenschaften der Substanzen«, »Adhäsionskraft«, »Undurchlässigkeit« und kommt zu »Chemie«. Hermes oder auch Mercurius Trismegistus, Anhänger des Osiris … Alchemie … chemische
Kombinationsmöglichkeiten, eine oder mehr Substanzen, die sich vereinen und ein drittes, der Natur nach unterschiedenes Produkt hervorbringen… Seite 84: Wenden wir…
»›Wenden wir uns erneut unserem ersten Experiment mit Schießpulver zu‹«, liest er, »›und nehmen Schwefel, schütten ihn in eine Eisenkelle, erhitzen ihn über …‹«
»Eisenkelle?«, fragt Sophie. »Ein Becher tut’s auch.« Sie wühlt auf dem Werktisch herum, kippt ein Durcheinander von Sicherungen aus einem Metallbecher, wischt ihn mit den Fingern aus und schüttet eine klare Flüssigkeit hinein. Ein scharfer Geruch brennt Serge in der Nase, beißt in den Nasenrücken. Sophie zieht ebenfalls ihre Nase kraus, setzt die Flasche ab, zündet den Bunsenbrenner an und hält den Becher darüber. »Was jetzt?«
»›… über die Flamme halten, bis …‹«
»Mach ich doch schon, Blödmann. Bis was?«
»›… es Feuer fängt‹«, liest Serge vor.
Wie aufs Stichwort lodert der Becher auf. »Oh, Mann!«, sagt Sophie. Die Flammen sind blau, nicht orange; sie lassen ihre blauen Augen noch blauer glühen, selbst die Zähne leuchten blauweiß wie gemusterter Marmor.
»Wir sollen es jetzt in einen Eimer mit Wasser kippen«, sagt Serge, »vorher aber den Raum abdunkeln.«
»Das überspringen wir«, entscheidet Sophie. »Was dann?«
Als Nächstes kommt ein Experiment mit Schwefel und aufgelöstem Kaliumnitrat, dann eines mit den Sulfaten von Pottasche und Bariumoxid, danach eines mit den Nitraten Bariumoxid und Kaliummetall. Serge liest die Anweisungen aus dem Spielbuch vor; Sophie führt sie aus, ihr Gesicht läuft rot an, orange, grau und wieder blau, während die Mischungen Feuer fangen, aufflammen oder verglühen. Als Sophie dann Holzkohlepulver erhitzt, bläst sie in die Tasse, und die Geschwister sehen, wie die Funken fliegen und das Pulver
sich von Schwarz über Rot zu feurigem Weiß verfärbt, ehe es grau und aschfahl in sich zusammenfällt, von der eigenen Glut verzehrt. Während Sophie in der Asche herumstochert, fühlt Serge wieder seinen Magen darauf reagieren: eine aufwallende Flüssigkeit, die sein Inneres verschlingt.
»Perlasche als Nächstes«, sagt Sophie. »Lies mir den Abschnitt vor.«
»›Erhitzt man noch ein wenig mehr Kaliumnitrat in einer Kelle und setzt Holzasche hinzu‹«, beginnt Serge, »›kommt es zu einer weiteren Verpuffung, einer leuchtend hellen Detonation, und die Holzkohle, statt …‹«
»Man spricht es De-to-na-zi-on aus, Dummkopf, nicht Detonattionn «, sagt sie und hält dabei das neue Gemisch über die Bunsenflamme. »Weiter!«
» ›… statt sich in Luft aufzulösen, wird es zu, zu, zu …‹«
Die Übelkeit steigt ihm in den Kopf, während sein Magen verpufft, etwas Saures, Scharlachrotes erblüht, expandiert. Er blickt auf. Sophie starrt ihn an, elektrisiert. Alle Regungen scheinen sich zu verlangsamen, während ihr Gesicht gleichfalls expandiert. Das Haar expandiert vom Kopf, richtet sich auf und steht steil in die Höhe. Sein Blick folgt den Spitzen, und er sieht Geräte aufsteigen, über den Regalen schweben. Sie bewegen sich unfassbar langsam, als schwängen sie sich aus eigener Willenskraft
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