K
lange neugierig auf seinem Bett und auf dem Fensterbrett hockten, dass Maureen kommen und sie vor die Tür schicken musste, gestand er, das Bild selbst gemalt zu haben. Darauf war, wie er ihnen sagte, Venedig zu sehen: die Kreuzung zweier Kanäle und ein Anlegesteg, dem sich ein kleines Boot nähert. Malerei ist für ihn von großer Bedeutung; er hat ihr im Lehrplan viel Platz eingeräumt. Doch auch auf diesem Gebiet schwächelt Serge. Er besitzt einen sicheren Pinselstrich und ein gutes Gefühl für Kontur und Bewegung, aber Perspektive kann er einfach nicht: Was er malt, ist ausnahmslos flach. Mr Clair hat ihm die Geschichte der Perspektive erzählt, ihre Grundsätze erklärt, und das, was er ihren »Nutzwert« nennt; er hat ihm die Technik gezeigt, wie man Menschen und Dinge maßstabgetreu wiedergibt, um es aussehen zu lassen, als wären sie weit fort, wie sich Linien in einem Fluchtpunkt treffen müssen, der noch innerhalb oder gerade außerhalb der Bildgrenzen liegt, und so weiter. Aber Serge kann es nicht: Sein Wahrnehmungsapparat weigert sich schlichtweg, entsprechend geformt zu werden. Er sieht die Dinge flach; er malt sie flach. Objekte, Gestalten, Landschaften: flach. Selbst wenn Clair ihm Reproduktionen von Giotto, Constable oder Vermeer vorlegt und ihm befiehlt, sie
abzumalen, schnurren die Szenen zweidimensional zusammen, werden im Profil gezeigte Figuren direkt auf zusammengestauchtem Hintergrund aufgetragen. An Dienstagnachmittagen, während der für Landschaftsmalerei vorgesehenen Stunden, machen sich die Kinder gewöhnlich auf den Weg zur Mansarde, und Serge malt den Hof von oben: die Wege, Gänge und Alleen allesamt zweidimensional vor ihm ausgebreitet. Sophie dagegen nimmt ein Blatt oder einen Zweig mit, um davon eine photographisch präzise Kopie anzufertigen.
Sophie ist in Naturkunde so bewandert, dass Mr Clair gar nicht erst vorgibt, etwas zu wissen, was sie nicht weiß, oder auch nur die Hälfte dessen zu kennen, was sie kennt. Sammeln sie zu dritt Pollen im Krypta-Park oder im Mosaikgarten, verschwindet Sophie alsbald mit den Gläsern in der kleineren Werkstatt, ihrem »Laboratorium« (deren Deckenbalken Brandspuren zieren, die im Laufe der Jahre verblasst, aber nicht verschwunden sind), das sie mittlerweile für sich allein beansprucht und aus dem Serge mehr oder weniger verbannt wurde, um dann zwei Tage später mit den Zeichnungen vergrößerter Mikroskopbilder und Diagrammen von Fremdbestäubung in unterschiedlichen Graden aufzutauchen, die sie in ihrer Analyse der Bestandteile der diesjährigen Zusammensetzung des Honigs berücksichtigt hat. Sie ist es, und nicht Clair, die das Trio auf ihren Spaziergängen durch Bodners Küchengarten führt. Während der stumme Dienstbote herumwerkelt und Schubkarren mit toten Ästen zur Kompostecke fährt, zählt sie die Pflanzennamen auf:
»Portal Ruby, Jonkheer van Tets, Symphony, Haphill, Royal Sovereign …«
»Eine Tautologie«, erklärt Mr Clair. »Ein Sovereign ist ein Monarch, und alle Monarchen sind königlich, also ›royal‹.«
»Das hier ist eine Rosenthals Langtraubige«, fährt Sophie fort. »Und das hier die Schwarze Johannisbeere Ben Sarek.«
»Und meist sind sie unehelich.«
»Kirschen: Stella, Morello. Birne: Doyenne du Comice. Und hier die Äpfel: Charles Ross, Lord Lambourne und die Goldparmäne King of the Pippins, also ein König der Tafeläpfel …«
»Edelmänner haben all unser Obst benannt. Im neuen Commonwealth benennen wir es nach Handwerkern, nach Schustern, Bäckern …«
»Psssst!«, zischt Sophie. »Seht doch.« Sie zeigt mit dem Finger auf einen Stängel fünf, zehn Zentimeter über dem Boden, wo eine kleine Spinne nahezu senkrecht in ihrem Netz hängt. »Eine Spaltenkreuzspinne«, erklärt sie. »Und das da«, fährt sie fort und weist auf ein winziges, dunkles Tier, das sich unter dem Spinnennetz einen Weg über die Erdklumpen sucht, »ist ein Tatzenkäfer. Wird er gestört, tröpfelt eine hellrote Flüssigkeit aus seinem Maul …«
Ein Springbrunnen in ihrem Rücken tröpfelt nicht nur, denn die Hauptfigur, ein schmiedeeiserner Schwan, gurgelt und speit, als hätte er zu viel aristokratisches Gartenobst gefuttert. Sophie führt sie um den Brunnen herum zu den Lilien. Als sie am großen Mohnbeet vorbeikommen, unterhält sie sich per Fingerzeichen mit Bodner, der unter all den drallen, knolligen Fruchtköpfen fast verschwindet.
»Lass dich dabei bloß nicht von deinem Vater erwischen«, warnt Clair.
Sophie
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